Einzelstück 
Jahresbericht Wiener Frauenheim
Entstehung
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Ein Frauenheim.

Da liegt ein kleines, mit Linien durchzogenes BlattPapier vor mir, an dessen oberem Rande beiläufig die nach-stehenden Worte zu lesen sind:Für die gebildete, verwitweteoder unvermählte, alleinstehende Frau, die im Gefühle diesesAlleinseins das Familienleben oder die Geselligkeit an langenWinterabenden schwer entbehrt, oder welche gar der Sorgeund Demütigung ausgesetzt ist, eine Heimstätte zu suchen,haben sich mehrere Frauen Wiens zusammengefunden undeinen Verein in das Leben gerufen, der sich die Aufgabestellt, den alleinstehenden Frauen Wohnung und Verpflegungzu bieten und nach Möglichkeit für gänzlich mittellose Witwenvon Beamten und Offizieren teilweise und ganze Freiplätzein dem zu errichtenden ,Wiener Frauenheim* zu stiften.

Es ist schon oft erzählt worden, wie ein zufälligerKlang, ein Ton, der Duft einer Blume, ein kleines Wörtleinplötzlich eine lange schon schlummernde, halbvergessene Er-innerung, eine verlorene Freude, einen begrabenen Schmerzwieder wachzurufen oder eine Reihe von Begriffen und Ge-stalten mit einem Male vor unsere Seele zu zaubern ver-mögen. In dem Texte jenes Blattes sind nun ein paar solcherWörtlein, die an das Erinnerungsvermögen wohl jedes Lesersrühren, die uns plötzlich und unabweislich Gestalten vorführen,welche wohl jeder von uns einmal gesehen und gekannt oderheute noch sieht und kennt, Existenzen, deren Fortbestandeigentlich wie ein rätselhaftes, mühselig und kunstvoll zulösendes Rechenexempel erscheint, gleichsam lebende Fragenan das Schicksal, die wir mit den Wortengebildete, allein-stehende, mittellose Frauen bezeichnen.

Unsere Umgangssprache, die uns feinfühligen Kultur-menschen alle unangenehmen Eindrücke und Empfindungenzu mildern sucht, hat auch hier für allzu harte Begriffesanftere Bezeichnungen gefunden, denn in den meisten Fällensollte es nichtalleinstehend und mittellos, sondernver-lassen und bitterarm heißen, und nur das Wörtleingebildettrifft wahrhaft zu.