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Gin Weifinnlkisstrnnßclien.
Von
Hermann Wagner.
Eine wehmüthige Stimmung überkommt leicht den Naturfreund, wenn im Spätherbst bei immer kürzer und kälter werdenden Tagen ein Baum nach dem andern sein welkes Laub zu Boden fallen läßt, wenn eine Blume nach der andern verblüht, ein Kraut nach dem andern abstirbt. Mit um so größerer Theilnahme beachtet er dann die wenigen Gewächse, welche selbst mitten im Winter noch ihr grünes Blattwerk behalten und die Frost und Schnee im Gewand ewiger Jugend überdauern. Einige derselben haben wir zu einem Sträußchen zusammengebunden und überreichen dasselbe unsern jungen Leserinnen als Weihnachtsgruß.
In der Mitte unsers Sträußchens befindet sich ein Zweig der Stechpalme (Hülsen, Ilsx aguilolium, Fig. 3), ausgezeichnet durch seine starren, harten Blätter, deren Rand wellig gebogen und mit spitzen Dornenzähnen bewaffnet ist und welche glänzen, als seien sie von lackirtem Blech. Ebenso ausgezeichnet ist die Stechpalme durch ihre lebhaft scharlachroten Beeren, die in den Blattwinkeln sitzen. Sie ist der „heilige Baum" der Engländer, der auf den britischen Inseln, auf denen ursprünglich unsere Christbäume: Fichte und Tanne fehlten — den Weihnachtsschmuck abgeben muß.
In Mittel- und Ostdeutschland ist die Stechpalme zwar unbekannt, im Süden zieht sie sich aber von Siebenbürgen, Slavonien und Oberitalien an in der Richtung von Südost nach Nordwest im Rheingebiet und durch Westfalen bis nach England. Ebenso kommt sie auch in Dänemark vor. Sehr häufig findet sie sich unter anderm auch auf dem Schweizer Jura. So stehen bei Chillon am Genfer See Gruppen von Stechpalmen, deren Stämme bis 18 Centimeter (9") im Durchmesser haben und die man auf wenigstens 100 Jahr alt schätzt. Die Stechpalme liebt besonders Kalkboden und gedeiht in Gebirgen, die eine etwas feuchte Atmosphäre haben, besser als in den Ebenen. Wird sie abgehauen, so treiben die zurückbleibenden Wurzeln neue Schößlinge. Der Forstmann liebt sie jedoch nicht, da sie als Nutzholz bei der geringen Stärke ihrer Stämmchen nichts werth ist und selbst als Brennholz wegen der starren Blätter und saftreichen Zweige nicht beliebt ist.