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Aber Gretchen hatte doch keine Ruhe, sie konnte nicht gleichgültig neben Emma hergehen. Ihre Mutter schrieb ihr, sie möchte doch nicht in der Liebe und Sanftmuth ermüden, sie möchte das Böse mit Gutem überwinden. Sie versuchte es, ihrer Feindin kleine Gefälligkeiten zu erweisen, ihr manche Wünsche an den Augen abzusehen. Emma nahm es eigentlich nicht unfreundlich aus, sie war niemals wieder unfreundlich gegen Gretchen, aber deren schüchternes Entgegenkommen machte sie ver­legen, sie vermied Gretchens Nähe, sie vermied es sogar, sie anzusehen. Einmal äußerte sie gegen Jda, daß sie mit den Schuhen, die sie zu ihres Bruders Geburtstag sticke, leider nicht fertig werden würde. Gretchen hätte ihr so gern ihre Hilfe angeboten, aber sie wagte es nicht.

Eigentlich, Gretchen, kann ich es Emma nicht verdenken, daß sie Dich nicht leiden kann," sagte Johanna eines Tages;ihr Ansehen ist sehr gesunken, seit Du hier bist."

Aber warum denn?" fragte Gretchen.

Ja, sieh einmal, früher nahm sie hier den ersten Platz ein, sie ist in höheren Klassen als wir und wurde uns immer als Muster hingestellt. Ihr Wort galt unbedingt, und Jede war stolz auf ihre Freundschaft. Nun ist das anders geworden, jetzt sind wir Alle entzückt von Dir, Du bist wie Tante Anna's Tochter, und unsere Erzieherinnen haben Dich sehr lieb. Wie oft ist Emma dagegen schon Deinetwegen getadelt worden! Und nun ist sie gar in den Bann gethan worden! Das ist eine sehr beschämende Strafe. Du siehst, mit unserm Respekt ist es vorbei, und das fühlt sie selbst recht gut."

Wenn Emma Gretchens wegen oft getadelt worden war, so geschah das doch jetzt nicht mehr. Ihre Erzieherinnen mußten mit ihr zufrieden sein, sie verdoppelte ihren Fleiß, ihren Gehorsam, ihre Aufmerksamkeit. Aber ihre Heiterkeit war dahin, sie war immer still und traurig, und Gretchen fühlte inniges Mitleid mit ihr, es that ihr weh, wenn sie den schmerzlichen Ausdruck bemerkte, der in Emma's Zügen lag, wenn Tante Anna einmal bei ihnen war, wenn Alle sie freudig umringten und nur Emma sich fern von ihr halten mußte. Es kam Gretchen jetzt vor, als ob auch sie nicht ohne Schuld an dem traurigen Verhältniß sei. Ja gewiß, sie war oft empfindlich gewesen, sie hatte Emma's spöttische Be­merkungen nicht ruhig und geduldig aufgenommen, und der Schein sprach auch gegen sie, und Emma mochte sie wirklich für klatschsüchtig halten. So überlegte Gretchen, und ihr Groll verschwand immer mehr.