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so lange wir in Alt-Neudorf sind und Du in Neu-Neudorf, unsere Papa- chens halten ja auch schon gute Nachbarschaft. Die ganze'Gegend ist sehr gesellig, das ist herrlich, besonders weil so viel Töchter da sind. Von den Söhnen merkt man weniger, die Kleinen gehen uns nichts an, sind auch aus Schulen, und die Großen sind anderswo Lieutenants, Referendarien oder dergleichen und kommen nur besuchsweise zu ihren Eltern. Aber wenn auch die Herren Söhne der Nachbarn nicht da sind, so ist deshalb doch kein Mangel an Tänzern, die Nachbarstadt liefert genug tanzlustige Herren, die ja auch bei uns Visite gemacht haben, sie waren auch schon zu zwei Bällen hier seit ich zu Hause bin, und zu Mittag vielmals, kommen auch so ungebeten angeritten und angefahren.

Aber nun genug für heute; ich schreibe wieder, wenn ich einmal Nach­richt von Euch habe. Dann adressire ich an eine andere meiner ehemaligen Standesgenossinnen, das erste Mal sollte meine künftige Nachbarin die Ehre der Adresse erhalten, denn die Nachbarschaft giebt Rechte. Ich um­arme Euch aber alle mit gleicher Liebe und wünsche Euch möglichst bald mein freies Leben voller Vergnügen. Es war ganz hübsch in der Pension, das leugne ich nicht; aber Sklaverei ist's doch, so an die Schulbank ge­kettet zu sein und gesetzmäßig sich gelehrt zu machen, alles nach der Uhr. Also, folgt mir bald nach! Aber vergesset nicht der Frau Professorin mich zu empfehlen und der Miß und der Mademoiselle, denn das schickt sich so, pro1>3>tnin 6St.

Behaltet Alle lieb Eure Anny.

Dieser Brief aus dem Alt-Neudorfer Schlosse giebt ein Bild von dem Leben und der Gesinnung seiner Bewohner, zwar nur ein flüchtiges Bild, aber doch ähnlich genug, um die Auffassung desselben von Seiten des Neu-Neudorfer Schloßherrn begreiflich zu machen. Herr von Felsen war ein freundlicher und geselliger Nachbar, er achtete die guten Seiten des älteren Herrn, welcher Mitbesitzer des großen Gutes Neudorf war, er achtete ihn als thätigen, sachverständigen Landwirth, als rechtschaffenen Geschäftsmann, als rücksichtsvollen Freund, überhaupt als braven Mann; aber er sah auch seine Schwäche gegen Frau und Töchter, und das ganze oberflächliche Treiben in seinem Hause war ihm ein Anstoß. Es ließ sich nichts thun, einen Vorwurf machen oder guten Rath geben durfte er nicht, denn er hielt nur gute Nachbarschaft mit Herrn von Borcke, befreundet war er nicht so mit ihm, um es wagen zu können sich in seine Verhält-