MEERSCHAUM- UND BERNSTEIN-INDUSTRIE IN WIEN.

m December 1897 waren es hundert Jahre, dass die erste Meerschaumpfeife aus einem Klotze erzeugt wurde; es ist kein welterschütterndes Ereignis gewesen, und die Jetztzeit hat, er­füllt von politischen und wirthschaftlichen Sorgen, die den Kampf ums Dasein auf das äusserste gesteigert haben, keine Veranlassung genommen, dieses Jubiläum in irgend einer Weise festlich zu begehen. Immerhin verdient das Ereignis eine, wenn auch bescheidene Beachtung, hat es doch, wie man mit Recht sagen kann, im Kreise der damaligen Raucher eine grosse Umwälzung hervorgerufen, aus der sich im Laufe der Zeit eine speciell in Wien zu grosser Bedeutung gelangte Industrie entwickelte. Ja noch mehr, wir stehen auf dem Gebiete der Meerschaum-Industrie und der mit ihr eng verknüpften Bernsteinarbeit einer echten Wiener Specialität gegenüber, die in ihrer Blüthe- zeit für die Liebhaberei und den Geschmack der ganzen Welt in ihrer Art tonangebend war.

Es ist gewiss eine auffallende Erscheinung, dass in Wien eine Industrie Boden zu fassen und reiches Ge­deihen zu finden im Stande war, zu der das Rohmaterial weder im Lande selbst gewonnen, noch aus nächster Nähe bezogen werden konnte, sondern einestheils weit aus dem Oriente, andererseits von den Küsten der nördlichen Meere eingeführt werden musste. Die Erklärung liegt darin, dass sich eben in Wien Umstände eigener Art zur Entwicklung dieser Industrie vereinigten. Da war zunächst der strebsame, sorgfältige Fleiss der kleinen Bürger und Gewerbetreibenden, die ihr Geschäft noch in der vom Vater und Grossvater überkommenen Weise solid und patriarchalisch führten; da waren Arbeiter, die, form­gewandt und sogar künstlerisch veranlagt, sich mit Eifer und Lust der Sache hingaben, und da war ein Publicum, das nicht nur das Rauchen leidenschaftlich liebte, sondern auch den Rauchrequisiten in ihrer geschmackvollen Form und Ausstattung volles Verständnis entgegenbrachte.

Was Wunder, dass sich diese günstigen Umstände gegenseitig ergänzten und der Ruf der aus der Wiener Pfeifenschneiderei hervorgegangenen Kunststücke bald die Runde um die ganze Welt machte.

Heute ist die Tabakspfeife von der der Hast des Tages eher Rechnung tragenden Cigarre mehr oder weniger zurückgedrängt; aber ältere Wiener wissen sich noch gut der Tage zu erinnern, wo die Pfeife eine der jetzigen Generation fast unbegreifliche Rolle spielte. In dem Maasse, als das früher allgemein übliche «Schnupfen» nach und nach vom immerhin reinlicheren Rauchen verdrängt wurde, begann die Pfeife ihren siegreichen Feldzug gegen die «Dose», und zwar mit glänzendem Erfolge.

Die kostbaren Dosen wichen den Prunkstücken der Pfeife, und an die Stelle der Dosensammlungen traten die mit treuer Sorgfalt gepflegten Pfeifensammlungen der auf ihren Besitz stolzen Liebhaber.

Wie die Geschichte erzählt, soll es ein in Ofen-Pest ansässiger Oesterreicher, angeblich ein Schuster­meister gewesen sein, welcher die erste Meerschaumpfeife schnitzte und bei seiner Arbeit rauchte. Wie es mitunter auch dem leidenschaftlichsten Raucher passiren kann, dass ihm das Feuer ausgeht, so soll auch unseren guten Schuster dies Malheur betroffen haben. Er legte die Pfeife auf seinen Tisch und zufällig; auf ein Stückchen Wachs, welches durch die noch in der Pfeife vorhandene Wärme schmolz und

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Die Gross-Industrie. III.

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