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Die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Wiener Lohnarbeiterinnen : Ergebnisse und stenographisches Protokoll der Enquete über Frauenarbeit, abgehalten in Wien vom 1. März bis 21. April 1896
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Exp. U: Nur nach dem Augenmaß. Sie soll das Gefühl in der Hand haben, daß das Blech die bestimmte Stärke hat.

Exp. Nr. 103 : Unser Vorgesetzter war ein Werkführer und eine Werk- sührerin. Letztere hat sehr viel Präsente genommen; damit man Arbeit bekommt, hat ihr die Eine eine Schürze, die Andere sl. 1, die Dritte wieder Bäckerei u. s. w. geschenkt. Vom Werkführer kann ich das nicht sagen. Zum Frühstück haben sich die Arbeiterinnen gewöhnlich Kaffee mitgenommen; der ist meist kalt gewesen, denn wenn man ihn wärmen wollte, so hat der Arbeiter beim Schmelzkessel geschimpft. Zu Mittag hat man wieder Kaffee getrunken, Manche sind auch zu Hause gegangen, und zwar haben sie da auch nichts Anderes als Kaffee. Auch ich bin, wenn ich mit der Arbeit fertig war und nicht über Mittag dort bleiben und arbeiten mußte, nach Hause gegangen. Es ist aber beinahe alle Tage vorgekommen, daß ich mit der Arbeit nicht nach­gekommen bin und dort bleiben mußte. Manche Arbeiterinnen haben zu Mittag auch eine Zuspeise gegessen. Oft haben sich auch die Mädchen um 3 kr. Cervelatwurst vom Roßsleischhauer gekauft. Zur Jause trinken sie wieder Kaffee; manchmal nehmen sie auch im Sommer um 2 kr. Aepfel oder Zwetschken; die werden aber heimlich von einer jugendlichen Arbeiterin geholt, denn es ist nicht erlaubt. Wenn die Arbeiterinnen Abends nach Hause kommen, so wissen sie nicht, was sie zuerst thun sollen: zusammenräumen oder waschen oder nähen, und da trinken sie halt auch wieder Kaffee. Am Sonntag essen sie auch nicht besser; höchstens kochen sie sich Fleisch vom Roßfleischhauer.

Exp. U: Ich möchte dazu bemerken, daß sich die Mädchen die Gesäße mit dem Kaffee auf dem Reservoir wärmen, welches in: Hos befindlich ist und heißes Wasser enthält. Sie nehmen das Brot mit den Händen, die voll Blei sind, und stecken es in den Mund. Deshalb kommen sehr viele Erkran­kungen vor; auch sind alle Wochen Unfälle eingetreten.

Vorsitzender: Woher wissen Sie das? Exp. U: Man sieht ja, wie die Arbeiterinnen mit ihren Krankenbüchern hinkommen.

Vorsitzender: Waschen sich die Leute manchmal den Mund aus? Exp. U: Nein.

Vorsitzender: Ist Gelegenheit zum Waschen da? Exp. U: Ja, aber für so viele Leute ist das zu wenig. Auf dem Gang ist ein Loch, da ist ein Trog darin; da können sich aber höchstens fünf bis sechs hinstellen, und in dem Saal sind hundert Mädchen, die sich alle nur dort waschen können. Seife und Handtücher sind nicht vorhanden, sie wischen sich halt im Kittel oder an der Schürze oder an einem Fetzen ab. Die zwölf Männer können sich commod waschen, die haben mehr Platz; wir haben aber auch keine Hand­tücher. Es waschen sich übrigens nur die wenigsten Mädchen, auch nicht vor­dem Nachhausegeheu.

Vorsitzender: Sie gehen also herum mit dem Blei im Munde, aus der Zunge und aus den Händen. Waschen sie sich auch nicht vor dem Essen, damit sie die Hände rein bekommen? Exp. U: Nein.

Vorsitzender: Dann ist es freilich kein Wunder, wenn die Zahl der Bleikrankheiten sehr groß ist. Exp. U: Ich muß noch bekanntgeben, daß jede Arbeiterin, gleichviel ob sie fl. 2 oder sl. 7 verdient, der Haus- meisterin 2 kr. für das Reinigen und Waschen der Aborte geben muß. Da 250 Arbeiterinnen da sind, so bekommt sie wöchentlich fl. 5. Mir ist das noch in keiner anderen Fabrik vorgekommen.

Dr. Osner (zur Exp. Nr. 103): Warum sind Sie nicht Dienst­mädchen geblieben? Exp. Nr. 103 : Ich habe es zwar als Dienstmädchen besser gehabt, aber da ich einen bösen Fuß habe, so konnte ich das Stiegen- steigen nicht vertragen. (Ueber Befragen des Vorsitzenden.» Das Arbeits- local war ein großer Saal mit fünf Fenstern in einer Reihe; es befanden sich darin fünfzig Personen. Dort wurde zu Ostern, Pfingsten und Weih-