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In dem einsamen Leben eines Dorfes ist eine neu herzugetretene Erscheinung stets ein wichtiges Ereigniß. Noch immer öffneten sich die kleinen Hüttenfenster, wenn die schlanke Mercedes mit leicht schwebenden Schritten durch das Dorf wandelte.Da ist die Malerin!" riefen ihr die Kinder, wenn auch mit etwas gedämpfter Stimme nach, und auch an den freundlichen Häusern der Honoratioren wurden stets die Gar­dinen bei ihrem Vorübergehn zurückgeschoben. Auch bei ihnen war ihre Einkehr ein Ereigniß und wohl noch ein interessanteres, da sie die Ein­förmigkeit des Landlebens mehr fühlten als die Bauern zwischen ihren anstrengenden Arbeiten und den immer wechselnden Beschäftigungen im Freien.

Doch sie fanden sich durch die Persönlichkeit der Künstlerin fast eben so getäuscht wie die Bauern, die sich, nach den sonderbaren Dingen in jenem Wagen, die gute Mercedes etwa wie eine Seiltänzerin oder Kunst­reiterin mochten vorgestellt haben. Unter den angesehenen Bewohnern des Dorfes waren doch Einzelne, die wenigstens einen Begriff hatten von der wichtigen Rolle, welche die Kunst in unsrer Zeit einnimmt. Sie waren in der Welt bekannt und hatten auf Reisen die Ausstellungen besucht, lasen auch Zeitschriften, in welchen der Name unsrer jungen Künstlerin schon öfters lobend genannt worden war. So war natürlich das Bild, das sie sich von der Künstlerin gemacht, ein ganz anderes als das des schlichten Bauernpublikums. Bei ihnen mußte sie wenigstens wie eine Muse aussehen und die Musen selber mochten sie sich auch wohl anders vorstellen als es die Griechen gethan, deren Gebilde nicht gerade oft mehr in den modernen Ausstellungen und noch weniger in den gebräuchlichen Albums zu finden sind.

Aber dieses einfache Mädchen mit dem stillen, bleichen Gesicht hatte wenig Auffallendes und Jmponirendes. Sie sah sogar noch ein wenig schlichter und bescheidener aus als andere Menschenkinder, und wenn sie auch keinen der schäbigen Röcke trug, die aus Frau Kathrins Erzählung bekannt waren, vielmehr ihr Anzug fein und sehr rein gehalten erschien, so konnte er doch kaum den Ansprüchen gerecht werden, die man hier aus dem Lande machte. Er rief sogar bei einigen Damen eine gewisse Ent­rüstung hervor, indem sie meinten:Wenn die berühmte Künstlerin ge­dacht hat, hier könne man gehen wie man wolle, hier wären wir zurück­geblieben und wüßten nicht einmal was die Mode fordert, so hat sie sich geirrt!"