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Man möchte fast glauben, der Strom spotte dann seines ihm von Menschenhänden begrenzten Weges, die Fluthen durchwühlen und durch­brechen oft an mehreren Stellen die Dämme, wälzen sich mit unwider­stehlicher Gewalt in die Werder und vernichten Alles, was sie auf ihrem Wege antreffen.

Das Wasser steigt in solcher bösen Zeit oft bis über die Giebel der Häuser und begeben sich daher viele Bewohner der Werder schon beim Herannahen der Gefahr in die benachbarten Städte; viele aber bleiben in ihren Wohnungen, hoffend, daß ein Dammdurchbruch nicht stattfinden werde und können dann meistens nur mit größter Lebensgefahr mittelst Kähnen gerettet werden.

Im Jahre 1855 konnte man trotz der gewaltigsten Anstrengungen das Graudenzer Werder vor einem Dammdurchbruch nicht bewahren. Das Wasser ergoß sich mit furchtbarer Gewalt und reißender Schnelligkeit und bildete Meilen und Meilen weit einen unabsehbaren See. Der größte Theil der Bewohner verlor Habe und Gut, viele auch ihr Leben.

Ein wohlhabender Besitzer der Gegend hatte sich, da er die Gefahr nicht so nahe glaubte, mit seiner Familie nicht geflüchtet. Sein Haus war nicht eins der höchsten, dennoch hielt er sich auf dem mit einer Gallerie versehenen flachen Dache desselben sicher, und hatte sich mit seiner Frau und seinem halbjährigen Kinde dort hinaufbegeben, Gewiß könnt Ihr, meine lieben Leserinnen, es Euch denken, wie kalt es im Frühjahr mitten im Wasser auf so einem Dache ist. Die Mutter hatte deshalb die Wiege des Kindes mit hinaufgenommen und den Säugling hineingelegt, um ihn so viel wie möglich vor Kälte zu schützen; denn oft müssen solche arme Leute Tage lang in diesen luftigen Räumen zubringen. Das Wasser stieg von Stunde zu Stunde, die Zimmer des Hauses waren vollständig davon erfüllt, es erreichte fast das Dach und weit und breit ließ sich kein rettender Nachen erspähen.

Die Angst der Unglücklichen wuchs mit jeder Minute, weder schien man ihr entsetzliches Geschrei zu hören, noch auf das Wehen ihrer Tücher zu achten.

Die Besitzung lag weit ab vorn Ufer, konnte daher nur mit großer Schwierigkeit erreicht werden; es war außerdem bei der ungeheuren Masse Verunglückter nicht möglich, Allen zu gleicher Zeit Hilfe und Rettung zu bringen, denn es fehlte sowohl an Nachen, da viele durch den Strom fortgetrieben waren, wie auch an Menschen, die dieselben zu Hand-