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ihr die Binde von den Augen zu nehmen. Sie ist so jung, so glücklich, so vorn Leben verwöhnt!"

Beide Männer schwiegen eine Weile, dann fuhr Herr von Steinthal ruhiger fort:Ich gedenke die Verwaltung eines Gutes zu übernehmen und hoffe, daß sich für einen so tüchtig geschulten Lnndwirth wie ich bin, eine passende Stelle finden soll, die mich und die Meinen vor Noth schützt. Das ist nichts Schlimmeres als mir vor fünfundzwanzig Jahren bevorstand, ehe mein älterer Bruder nach Amerika ging und ich als jüngerer Sohn ohne Erbansprüche war. Da er trotz aller Nachforschungen verschollen blieb, übernahm ich das Erbe, aber das Damoklesschwert schwebte seitdem über meinem Haupte, bis es nun zermalmend hernieder- gefallen ist.

Gott weiß es, daß ich meinen Bruder mit treuer, uneigennütziger Liebe geliebt, ihm nie seine Erstgeburt beneidet habe, die ihm, da unser Vesitz- thum ein Majoratsgut ist, so große Vorrechte über mich einräumte. Auch war er ein edler, nur etwas excentrischer Mensch; von ganzem Herzen wollte er das Gute, aber er vergriff und überstürzte sich in den Mitteln, es zu erreichen; er führte seit des Vaters Tode Neuerungen ein, die seinen Untergebenen mißfielen und so verlor er die Liebe derselben. Er ward in seinem Dränge, das Rechte zu thun, in unangenehme Händel und Streitigkeiten verwickelt und das verleidete ihm die Freude an seinem Besitz. Als ich ihm freundliche Vorstellungen machte, Einiges anders einzurichten und zu gestalten, ward er auch an meiner Liebe zu ihm irre, sah sich überall verkannt, verleumdet und so ward der beste Mensch aus Mangel an Weltklugheit und Menschenkenntniß ein Hypochonder.

Eines Tages ging er ohne Abschied von seinem väterlichen Erbe fort und sandte mir nur einen Zettel folgenden Inhaltes: «Nur in der Armuth, Arbeit und Einsamkeit ist Glück und Freiheit. Ich will sie suchen. Dein Bruder.»

Später erfuhr ich, daß er nach Amerika gegangen sei. Auf dem Schiffe war er gesehen worden; später gelang es mir nicht, noch einmal Nachrichten von ihm zu erlangen und so übernahm ich die Güter der Familie. Er galt für verschollen."

Und sollte es im Sinne dieses doch im Grunde edlen Menschen gehandelt sein, wenn sein Kind jetzt eine glückliche Familie von Haus und Hof treibt, um Alleinbesitzerin der von ihm einst verschmähten Reichthümer zu werden?" frug der Justizrath nachdenklich.