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Auch Du bist verblendet!" entgegnete Emma, und sie sprach noch weiter, aber Gretchen hörte es nicht mehr. Sie schlich leise aus dem Saal, sie ging in die dritte Stube, wo sie allein sein konnte und weinte. Wohl sagte sie sich selbst, daß sie sich über dieses lieblose Urtheil hinweg­setzen sollte, aber sie konnte es nicht, es that ihr gar zu weh. Falsch und heuchlerisch sollte sie sein, sich bei Tante Anna einschmeicheln und die Andern verklatschen! O, wie sehnte sie sich nach ihrer Mutter in dieser Stunde, sie fühlte sich so allein, so ganz allein und verlassen!

Sehr bald kam Aurelie ihr nach.Wo steckst Du denn, Gretchen?" rief sie, und war dann sehr bestürzt, als sie Gretchen in Thränen erblickte. Gleich darauf kam Johanna und erzählte, daß Tante Anna soeben in den Saal gekommen sei und Gretchen sogleich vermißt habe.

Gretchen trocknete schnell ihre Thränen.Sagt ihr nichts davon," bat sie dringend,es könnte sonst wieder aussehen, als ob ich ge­klatscht habe."

Wenn sie mich fragt, werde ich es ihr gewiß sagen," versicherte Johanna,es ist zu abscheulich von Emma." Ehe Gretchen noch etwas erwidern konnte, trat Tante Anna ein. Sie bemerkte sogleich, daß Gretchen geweint hatte und fragte nach der Ursache. Gretchen wollte es nicht sagen, da wandte sie sich an Johanna und die erzählte dann Alles. Tante Anna war sehr unwillig und sagte, daß sie am nächsten Tags mit Emma sprechen wolle.

Ach, liebe Tante, bestrafe sie nicht," bat Gretchen flehend,sie würde mich um so mehr hassen, ach bitte, bitte, sage ihr gar nichts darüber."

Tante Anna schüttelte den Kopf.Ich darf ihr schlechtes Betragen nicht so hingehen lassen, und ich will Dich wenigstens vor ihren Krän­kungen sicher stellen."

Aurelie und Johanna kehrten nun in den Saal zurück, Gretchen aber ging mit nach Tante Anna's Zimmer, und da mußte sie sich wohl bald aufheitern. Der Onkel zeigte ihr eine Mappe mit schönen Bildern, Tante Anna holte aus der Bibliothek ein reizendes Geschichtenbuch und schenkte es ihr, und Martha war auch sehr liebenswürdig gegen sie. Nachher sprach Tante Anna auch noch mit Gretchen über Emma.Sie ist hochmüthig," sagte sie,sie ist daran gewöhnt, in Eurer Stube die Erste zu sein, und es verdrießt sie, daß Du ihr in manchen Dingen überlegen bist. Darum ist sie ungerecht gegen Dich, aber das wird nicht so bleiben, sie wird ihr Unr.echt einsehen und Dich dann desto lieber haben!"