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hat niemals ein Wort der Klage ausgesprochen. Nicht von ihr habe ich erfahren, daß Ihr sie damals eingeschlossen, und damit ihre Verspätung veranlaßt habt, und.nicht sie war's gestern, die mir Deine harten Worte mittheilte. Im Gegentheil, es war ihr sehr schmerzlich, daß ich es erfuhr, und sie bat mich mit Thränen, daß ich Dich nicht bestrafen, bat mich, daß ich gar nicht mit Dir über die Sache reden möchte. Willst Du mir nun sagen, was und wann sie geklatscht hat?"

Emma schwieg, und Tante Anna fuhr nach einer kleinen Pause fort: Emma, bist Du jetzt überzeugt? Siehst Du Dein Unrecht ein und willst Du es Gretchen sagen?"

O Tante Anna," rief Emma plötzlich leidenschaftlich,Sie kennen dieses Mädchen nicht, Sie lassen sich von ihr täuschen wie alle Andern, aber ich kenne sie besser, ich weiß"

Sie sprach nicht weiter, ein durchdringender Blick der Vorsteherin gebot ihr Schweigen.Seit wann kennst Du Gretchen?" fragte Tante Anna streng.

Seit vier Wochen," mußte Emma zögernd eingestehen.

Und Du wagst es, mir zu sagen, daß Du sie besser kennst als ich, die ich ihr seit ihrer frühesten Kindheit nahe stehe und ihre Entwicklung beständig beobachtet habe? Du traust Dir mit Deinen 14 Jahren ein richtigeres Urtheil zu als mir, als allen Andern? Es betrübt mich, zu sehen, wie groß Deine Verblendung ist. Ich darf von Dir fordern, daß Du in dieser Sache Dein Urtheil dem meinigen unterwirfst und mir glaubst, daß Gretchen Deine schlechte Meinung nicht verdient. Ich weiß auch, daß die Zeit kommen wird, in der Du meine Forderung erfüllen, in der Du den rechten Weg wiederfinden und es Gretchen selbst sagen wirst, daß Du ihr unrecht gethan hast. Bis dahin aber, bis dies ge­schehen ist, wirst Du Dich möglichst fern von mir halten!"

Emma erschrak, sie verstand wohl, was Tante Anna's Worte bedeu­teten. Ihre Privatzimmer sollten für Emma verschlossen sein, sie sollte nicht, wie die andern Zöglinge, jederzeit zu ihr kommen dürfen, auch zu keinem der gemüthlichen Theeabende eingeladen werden, sie sollte sich über­haupt der Vorsteherin nicht nähern, sich keine Vertraulichkeiten gegen sie erlauben dürfen. Das war für die Zöglinge, welche Tante Anna zärtlich liebten, die allerschwerste und demüthigendste Strafe! Emma fing heftig an zu weinen.O Tante Anna," schluchzte sie,bestrafen Sie mich nicht