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Gleich nach Tische fuhr die Gesellschaft ab, und in einer halben Stunde waren sie in Höfendorf, der ersten Station. Als sie ausstiegen, wäre Gretchen beinahe umgefallen vor freudigem Schreck, denn wen sah sie da auf dem Perron? Ihre liebe Mutter und alle ihre Schwestern. Sie war ganz fassungslos und weinte eine Weile am Halse ihrer Mutter, so daß diese mehrmals ermähnen mußte: Beruhige Dich doch, mein liebes Gretchen. Aber auch sie hatte Thränen in den Augen, und die Schwestern herzten sie so viel, sie wollten sie gar nicht loslassen. Dann aber sprang Gretchen zu Tante Anna und dankte ihr für diese Freude.Ich wußte nicht bestimmt, ob Deine Mama kommen würde," sagte Tante Anna,sonst hätte ich es Dir heute früh gesagt, damit Du schon vorher die Freude gehabt hättest."

Im Pfarrhause wurden sie von Tante Anna's Eltern und Geschwistern sehr freundlich empfangen. Gretchen wurde auch von Martha an den schönen Geburtstagstisch geführt, und diese erzählte ihr auch, wie gut es ihr in Höfendorf gehe und daß sie gar kein Heimweh gehabt habe. Aurelie und Adele waren mit Martha schnell intim und amüsirten sich sehr gut, Gretchen aber war fast nur für ihre Mutter da. Nach dem Kaffee wurde für die junge Welt, wie Herr Pastor sagte, eine Wasserfahrt arrangirt auf dem schönen See hinter dem Pfarrgarten. Gretchen fuhr nicht mit, sie saß währenddessen allein mit ihrer Mutter in einer Laube ach, sie hatte ihr so viel zu sagen, sie schüttete nun ihr ganzes Herz aus und erzählte auch Alles von Emma, ausführlicher, als sie es hatte schreiben können. Die Mutter sagte ihr:Ich kann Dir keinen andern Rath geben, als daß Du Dich hierin wie in allen andern Dingen fest an das Wort Gottes halten mögest. Denke an die Feindesliebe, die der Herr uns gebietet, denke an die Mahnung des Apostels: Ist es möglich, so viel an Euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden. Und: Laß Dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem."

Ich zanke mich nie mit Emma," sagte Gretchen,sie beleidigt mich auch niemals, und ich habe also eigentlich Frieden mit ihr, aber das ist doch nicht das Rechte, sie verachtet mich und hält mich für eine Heuch­lerin; was soll ich nun thun, um zu dem rechten Frieden mit ihr zu kommen?"

Sei immer freundlich und herzlich," erwiderte die Mutter,besiege ihren Stolz durch Deine Demuth, ihren Haß durch Deine Liebe, zuletzt wird Dein Streben gesegnet sein, denn Gott läßt es den Aufrichtigen