428

Der "" ^ Kommer oller Mariengarn.

Von

K. Holmsmr bon Uauborn.

Der fliegende Sommer! ein sonderbarer Name; als ob der Sommer auch fliegen könnte! höre ich bei Lesung dieser Überschrift wohl einige meiner freundlichen Leserinnen ausrufen. Ja, antworte ich, der Sommer, den ich meine, kann fliegen, und Ihr habt ihn alle schon fliegen sehen. Der fliegende Sommer kommt in denherbstlich sonnigen Tagen", wenn die Blätter der Bäume in Feld und Wald schon gelben und die Aepfel mit ihren rothgestreiften Väckchen uns zuzurufen scheinen: Kommt und pflückt uns! Dann fahren tausend und aber tausend feine, weiße, seidenartige Fädchen wie wunderbare Erscheinungen durch die Luft, hängen sich an Bäume und Hecken, an Menschen und Thiere fest und überziehen den ganzen Erdboden wie mit einem feinen blinkenden Netze. Das ist der fliegende Sommer, der auch Altweibersommer, Sommer- oder Herbstseide, Sommer- oder Herbstfäden, Mariengarn rc. genannt wird.

Woher kommt dieses hübsche Gebilde? wer spinnt diese schönen feinen Fäden? so habt Ihr gewiß schon gefragt. Ist es nicht, als ob sie. die letzten sonnig verklärten Tage des Jahres mitbrächten und die sommerliche Lust und Freude noch einmal in unserm Herzen wach riefen?

Lange waren die Gelehrten verschiedener Ansicht über die Entstehung des fliegenden Sommers, bis man entdeckte, daß die Spinnen in ihrer Jugend, wenn sie die Größe eines Stecknadelkopfes haben, die feinen Fädchen zwirnen und zwar aus einer großen Neigung zu Luftreifen oder, wenn man es so nennen will, zur Luftschifffahrt. Es ist nicht etwa eine besondere Spinnenart, die im Herbste solche feinen Gebilde spinnt und webt, nein, alle Arten nehmen an dieser Thätigkeit Theil und reisen mit dem leisesten Windzuge auf den weißen Herbstfäden durch die Luft und den goldenen Sonnenschein, bis sie sich wieder an den ersten besten Gegenstand, der ihnen in den Weg kommt, festhängen. Nicht selten werden sie auf diese Weise hoch wie der Kirchthurm empor und meilenweit durch die Lande hinaus getragen. Das muß ein herrliches Vergnügen für die kleinen Thierlein sein, um welches der Mensch sie wohl beneiden mag, denn bei allem Scharfsinn, den er auf die Kunst fliegen zu lernen ver­wandte, hat er es noch nicht soweit zu bringen vermocht, wie die kleinen Spinnlein.