Epochemachend für die Wiener Fabrication war die erste Londoner Weltausstellung 1851; von da an nahm die Erzeugung einen riesigen Aufschwung, seitdem datirt die Verbindung der hiesigen Geschäfts­welt mit dem Auslande, die Bekanntschaft mit der Erzeugungsweise und dem Geschmacke anderer Nationen. Den grössten Verkehr verursachten die in Meerschaum und Bernstein ausgeführten Nach­ahmungen der holländischen, französischen und englischen Thonpfeifen, welche zuerst glatt, dann in ver­schiedenen Formen mit Bildhauerarbeiten, als Charakterköpfe etc. ausgeführt wurden und einen über­raschenden Aufschwung der Erzeugung und des Absatzes bewirkt haben.

Um einen Maasstab für den Umfang der Erzeugung anfangs der Siebzigerjahre und für die statt­gefundene Zunahme zu geben, wird die Darstellung des Materialverbrauches zu verschiedenen Zeiten am geeignetsten erscheinen. Die Kisten, in welchen der Meerschaum zu Markte gebracht wird, sind 25 3 o kg schwer; das Material wird in folgende Sorten eingetheilt: Lagerwaare 2050, Grossbaumwolle 100140, Kleinbaumwolle 200 3 oo Stück in der Kiste, Kastenwaare in grösseren Kisten zu 4001500 Stück für die kleineren Artikel; jede Sorte zerfällt in 12 Qualitäten. Vor dem Jahre 1850 wurden durchschnitt­lich 3 oo Kisten Meerschaum per Jahr verkauft; von da an wurden abgesetzt im Jahre:

1850 ca. 800 Kisten, ä fl. 500. 1865 ca. 8.000 Kisten, ä fl. 350.

1855 » 3 o00 » ä » 600. 1870 » 10.000 » ä » 500.

1860 » 5000 » ä » 900. 1872 » 12.000 » ä » 350.

Diese Preise gelten für beste Qualitäten, die minderen sind entsprechend billiger.

Der Bernstein wird nach Gewicht verkauft, und variirt der Preis per Kilo von fl. 7. bis 100, erreicht auch fl. 150., je nach der Grösse und Farbe der Stücke.

Vor dem Jahre 1850 wurden per Jahr höchstens 150 kg Bernstein im Werthe von fl. 15.000. verkauft.

Von da an wurden abgesetzt im Jahre:

1855 ca.

3 .ooo kg

im

Werthe

von

A.

180.000

1860 »

6.000 »

»

»

»

3 oo.ooo

1865 »

12.000 »

»

»

»

480.000

1870 »

20.000 »

»

»

»

*

1,200.000

1872 »

3 o.ooo »

»

»

»

»

1,600.000

Das angegebene Meerschaumquantum ergibt eine durchschnittliche jährliche Production von 100.000 Dutzend Pfeifen, glatt, gravirt, mit Figuren, Charakterdarstellungen etc. ausgestattet. Die Kasten­waare und die Abfallstücke der übrigen Sorten wurden zu etwa 500.000 Dutzend Cigarrenspitzen in den verschiedensten Formen und Ausführungen verarbeitet.

Aus den l j 21'/ 4 zölligen Stücken von Bernstein werden Ansatzspitzen für Bruyere-Holzpfeifen, grösstentheils für den Export als Ansatzwaare verfertigt. Die sogenannten Courir- oder runden Steine, sowie die flachen werden zu Ansatzmundstücken von Cigarrenspitzen und Pfeifen verarbeitet.

Stärkeres Product wird zu Bernstein-Cigarrenspitzen, dann zu türkischen und anderen Pfeifen­mundstücken verwendet; die Bernsteinspitzen zu 1 bis 2'/ 3 Zoll Länge finden den grössten Absatz.

Auch wurden in Wien eine Zeitlang Damenschmucksachen, wie Broches, Ohrgehänge, Colliers etc. aus Bernstein verfertigt.

Mit der Erzeugung von Meerschaumwaaren beschäftigten sich in Wien und Umgebung anfangs der Siebzigerjahre 154 Meister mit etwa 800 Hilfsarbeitern; Bernsteinartikel wurden von 26 Meistern mit ca. 200 Hilfsarbeitern erzeugt; dabei ist zu berücksichtigen, dass viele Meister ihre Erzeugnisse nicht direct an Kaufleute oder Consumenten, sondern an grössere Fabrikanten absetzten.

Hiemit stehen wir in der Blüthezeit der Meerschaum-Industrie in Wien. Thatkräftige Männer, wie Hartmann und später Franz Hiess, betrieben die Erzeugung und das Geschäft in grossem Maasstabe. Wien wurde im Meerschaumartikel tonangebend auf dem Weltmärkte.

Dr. Sax sagt in seinem Buche «Die Haus-Industrie in Thüringen», II. Bd., treffend:

«Den ersten Rang in der Kunst der Meerschaum Verarbeitung nimmt anerkannt und unbestritten Wien ein, insbesondere hat dort die sogenannte Buntschneiderei oder Figurenschnitzerei einen hohen

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