Grad der Vollkommenheit erreicht. Hingegen hat man sich in Ruhla mehr auf die Herstellung von glatten Meerschaumwaaren und von Massenartikeln verlegt und sucht wenigstens darin Wien die Spitze zu bieten.» 1

Auf dieses Urtheil darf Wien umsomehr stolz sein, als dasselbe in Schriften niedergelegt ist, welche nicht unserer Meerschaum-Industrie, sondern ihrer bedeutendsten Concurrentin in Ruhla ge­widmet wurden.

An diesem Erfolge hatte besonders die Firma Franz Hiess ihren unbestrittenen Antheil. Aus kleinen Anfängen heraus hatte es Hiess verstanden, sein Geschäft' zu einem Welthause emporzuheben, dessen Umsatz so gross war wie heute der aller Wiener Geschäfte dieser Branche zusammengenommen. Hiess war nicht nur ein praktischer Geschäftsmann, er war auch ein verständnisvoller und gebildeter Kauf­mann, und ihm verdanken wir eine noch heute mustergiltige Darstellung der Geschichte des Wiener Drechslergewerbes, der wir auch bei der Schilderung der Wiener Meerschaum-Industrie bisher gefolgt sind.

Hiess war durch 18 Jahre in der Vertretung der Wiener Drechslergenossenschaft, um die er sich grosse Verdienste erworben, und Mitbegründer der Genossenschafts-Fachschule. Im Jahre 1888 zog er sich vom Geschäfte zurück, um sich mehreren humanen Unternehmungen zu widmen, und ist vor einigen Jahren reich an Ehren und Erfolgen gestorben. Sein Geschäft wird von den Söhnen in gleichem Geiste fortgeführt.

Hand in Hand mit der Entwicklung der Meerschaum-Industrie hatte sich auch die Bernstein- Industrie in Wien auf das glänzendste entfaltet, und in erstaunlicher Menge wurde das kostbare Harz nach Wien importirt, um hier zu den elegantesten Montirungen der Pfeifen verarbeitet zu werden.

Die grossen Hoffnungen, die man unter diesen Umständen für ein weiteres Aufblühen dieser beiden Industrien in Wien zu hegen berechtigt schien, sollten sich leider nicht verwirklichen. Zwei Feinde traten gegen sie ins Feld; zunächst ein äusserer, 4ann aber ein innerer, aus ihr selbst heraus entstandener und dadurch auch ungleich gefährlicherer Feind.

Der erste Feind der Pfeifen-Industrie war die uns allen bekannte, heute unentbehrlich gewordene Cigarre, deren rapid steigender Verbrauch der Pfeife in Wien das Absatzgebiet raubte.

Für die Meerschaum-Industrie selbst besass die Cigarre lange nicht so besondere Gefährlichkeit, sie änderte nur die Richtung der Meerschaumarbeit, denn die vielfach begehrten Cigarrenspitzen, die an Wuchtigkeit der Pfeife oft nur wenig nachgaben und in Massen producirt wurden, traten nun in neuen, phantasievollen und künstlerisch ausgeführten Formen an die Stelle der Pfeife. Für die Bernstein-Industrie ergab sich sogar ein viel grösseres, lohnenderes Feld als früher, da die Bernsteinspitze selbständig auftreten konnte und nicht mehr blos eine dienende Rolle für den Meerschaum zu spielen hatte. Immerhin ergab aber die Verbindung der beiden Stoffe die lohnendsten, geschmackvollsten, elegantesten Formen, und der künstlerischen Ausführung war ein weiter Spielraum geboten. Die Meerschaumbild­hauerei, die Herstellung porträtähnlicher Köpfe und Büsten, überhaupt die figuralen Darstellungen erhoben die Meerschaumschneider zum Range der bildenden Künstler.

Wenn die Cigarre also nur für den Artikel der Meerschaum pfeife als Feind gelten konnte, so war jedoch der andere Schädling der Meerschaum- und Bernstein-Industrie ein solcher, dass er die beiden Industrien ins innerste Mark traf, und dieser Schädling war die Imitation der echten Waare, die Fälschung einerseits durch die «Massa», andererseits durch den «Ambroid». Die Imitation des echten Meerschaums durch «Massa» wurde anfangs sogar von den Fabrikanten mit Freude begrüsst; es schien damit das langersehnte Ziel erreicht, den bitter empfundenen Verlust, der bei der Verarbeitung des nach vollem Gewichte bezahlten, aber qualitativ ungleichmässigen Rohmaterials unausweichlich entstand, ca. 40 50 °/ 0 » auf ein Minimum zu reduciren. Als aber die zuerst vielfach misslungenen Versuche über Erwarten glückten, als endlich durch die verschiedenartigsten chemischen Processe aus den bisher werthlosen Meerschaumabfällen eine «Massa» hergestellt wurde, die im ausgearbeiteten Stücke selbst den Kenner zu täuschen vermochte, da zeigte sich dieser Feind erst in seiner wahren Gestalt, nämlich als Keim für den Niedergang der Industrie in echter Waare.

Obwohl bei noch so schön hergestellter «Massa» die Eigenschaften des echten Meerschaums nie geboten werden konnten, nämlich seine Leichtigkeit, die Gleichmässigkeit und Festigkeit des Materials

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