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Das Studium und die Ausübung der Medicin durch Frauen / beleuchtet von Dr. Theodor L. W. von Bischoff
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fühles und Charakters. Und das follen die Wefen fein, welche wegen der Feinheit ihres Zartgefühles, ihrer Mitempfindung, ihrer Vermeidung alles Anftöfsigen und Verletzenden, den Kranken vor den rohen männlichen Aerzten befonders zu empfehlen find? Es ift eine Beleidigung und Sünde wider die Natur, in meinen Augen für eine Frau ebenfo unverzeih­lich, wie eine Sünde wider den heiligen Geift. Auch haben wir felbft hier bereits Erfahrungen gemacht, obgleich fie nur die leifeften Anfänge berühren. Im Anfänge hält die Neu­gier Stand; allein bald erfchlafft das Intereffe, die innere und äufsere Schwierigkeit wird zu grofs, die Sache nimmt ein Ende, indem man fich vorredet: Die Befchäftigung mit der Anatomie, mit der Leiche fei nicht fo nothwendig, das Nothwendige könne man fich durch Ledtüre, durch Abbildungen, durch plaftifche Darftellungen erwerben, und fo die Schreckniffe der Anatomie umgehen.

Ja! Diefes ift der Weg, den unfere medicinifchen Studentinnen bald einfchlagen werden; ift es ja derfelbe, den Unverftand, Trägheit, Mifsgunft, falfche Humanität, welche fich fcheut, die nothwendigen menfchlichen Leichen herbeizufchaffen, fchon feit lange, Gott fei Dank bis jetzt aber vergebens, einzufchlagen fich bemüht haben. Bis jetzt ift es nicht geglückt, die Einficht zu unterdrücken, dafs die Anatomie, und zwar in ihrer pradtifchen Erlernung und Uebung an der menfchlichen Leiche, der reale und formelle Grundftein des gefammten medicinifchen Wiffens und Hand­lens ift.

Die Anatomie lehrt den jungen Arzt nicht nur das Objedt feiner gefammten künftigen Bildung und feiner Thätigkeit kennen, fondern fie fchult auch feinen Geift in deffen logifcher geordneter und fcharfer Beobachtung und Aufiaffung; und dazu bedarf es der eigenen Befchäftigung mit dem Objedte. Die medicinifche Schule, welche die Anatomie vernachläffigt, wird nur oberflächliche und un- fichere Kurirer und ärztliche Handwerker hervorbringen.