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nicht dreißig Jahren über das höhere wissenschaftliche Studium der Frauen ein gewaltiger Umschwung der Meinungen.sich vollzogen hat*), ja man kann sagen, über das Ziel selbst ist man kaum mehr im Unklaren, wenn man auch bei der Feststellung desselben den jeweiligen Verhältnissen in den einzelnen Staaten eine entscheidende Bedeutung beimessen muss; wohl aber kann man sehr verschiedener Ansicht darüber sein, welche Wege zum Ziele führen, und mit Recht hat man ernste Bedenken darüber erhoben, ob die Einführung einer analogen Einrichtung zu unserm Gymnasien für die männliche Jugend die richtige Maßnahme für die weibliche Bevölkerung bilden würde.**)
Oder soll, ganz abgesehen von den in der Natur der Sache liegenden Momenten, der „aufsteigenden Classenbewegung" zu Liebe die erschreckende Zahl der männlichen Mittelschüler — in Österreich überstieg dieselbe zu Beginn des Schuljahres 1899/1900 bereits 100.000 — und das damit über die Meisten für die Zukunft unaufhaltsam heraufbeschworene sociale Elend noch eine weitere Steigerung erfahren? — Sicher ist es, dass alle berechtigten Bestrebungen, den Boden wissenschaftlicher Studien Frauen zugänglich zu machen, nur dann von Erfolg begleitet sein werden, wenn es gelingt, eine eigene Bildungsstätte als feste Basis für die Vorbereitung zu solchen Studien zu schassen. Bei solchen Neuschöpfungen kann die Anwendung der Schablone am wenigsten empfohlen werden. Unser Thema gestattet nicht, über diese wichtige und interessante Frage uns hier weiter zu verbreiten; hier kann diese nur insoferne in Betracht kommen, als sie eben mit diesem Thema bestimmte Berührungspunkte hat, und diese zu erörtern wird sich im Verlaufe der Behandlung desselben mehrfach Gelegenheit finden.
In vorzüglicher Weise hat den Kern der Sache Frau Kath.Mig erka in einer Besprechung ***) der „Mädchen-Unterrichtsfrage" mit folgenden Worten charakterisiert: „Die gewohnheitsmäßig übernommene Vernachlässigung des weiblichen Unterrichtes musste bei dem großen Umwandlungsprocesse unserer socialen Verhältnisse unvermeidlich zu einer nicht culturgemäßen Entwickelung führen, zu dem grausamen Wider-
*) Vgl. Dr. Karl Freiherr v. Lemayer: Die Verwaltung der österr. Hochschulen von 1868—1877, S. 96 u. folg.; die „Frauenfrage an den österr. Universitäten".
**) Siehe den trefflichen Artikel von Uuiv.-Prof. Dr. Friedrich Jodl über: „Höhere Mädchenbildung und Gymnasialfrage" in den Documenten d. Frauen, Wien, I, Nr. 6.
***) Wiener Mode, XII, S. 390.