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Die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Wiener Lohnarbeiterinnen : Ergebnisse und stenographisches Protokoll der Enquete über Frauenarbeit, abgehalten in Wien vom 1. März bis 21. April 1896
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Hinsicht mißbrauchen wollen, wohl constatirt worden, doch waren die Aussagen über den Sittlichkeitspunkt im Allgemeinen meist zurückhaltend. Häufiger wirdLber brutale Behandlung geklagt. Die Arbeiterinnen haben aber nicht blos unter der Brutalität der Vorgesetzten zu leiden, auch die männlichen Mitarbeiter machen sich dieses Vergehens schuldig. So wird insbesondere über die männlichen Arbeiter im Baugewerbe geklagt. Eine, wenn auch durch das Herkommen sanctionirte Brutalität ist es auch, wenn im Baugewerbe die Frau vor den Handwagen gespannt wird und der männliche Arbeiter nur dann nachschiebt, wenn es ihm beliebt.

Die Nachgiebigkeit der Frauen bewirkt es denn auch, daß sie in demselben Gewerbe bei gleicher Arbeit wie der Mann geringeren Lohn beziehen wie dieser. So rechtfertigt ein als Experte vernommener Unternehmer (S. 396) den Umstand, daß die Ueberstnnden den Männern höher entlohnt werden als den Frauen, damit, daß die Männer gestrikt hätten und die Frauen nicht.

Unter solchen Umstünden darf es nicht Wunder nehmen, wenn wir hören, daß in einer ganzen Reihe von Arbeilszweigen eine Ver­drängung der Männerarbeit durch die Frauenarbeit stattfindet, so z. B. in der Buchbinderei, Zuckerbäckerei, Hnffabrikation, Schneiderei und in verschiedenen Zweigen der Metallfabrikation (S. 4t, 92, 97, 104, 129, 165, 291 und 420), wobei allerdings das Phänomen erst dann richtig beurtheilt werden könnte, wenn man über die gleichzeitige Gesammtentwicklung der betreffenden Gewerbe etwas wüßte, da das starke Eindringen von Frauen in sie offenbar eine andere Bedeutung hat, je nachdem das betreffende Gewerbe wächst oder stationär ist. Anderer­seits wird den Arbeiterinnen starke Concurrenz gemacht, und zwar nicht blos durch die sich massenhaft andrängenden Frauen und Mädchen der niederen Stände, den Fabriksarbeiterinnen nicht blos durch die Heim­arbeiterinnen, sondern auch durch Mädchen und Frauen des Mittel­standes. In den Kleidersalons erscheinen neben denLehrmädchen" dieLehrfräuleins", und zahlreiche Frauen des kleineren Mittelstandes nähen Cravatten, beschäftigen sich mit Stickereien und Schlingereien.

Einer der wundesten Punkte in dem Arbeiterleben Wiens ist der Mangel einer organisirten Arbeitsvermittlung. Diese erfolgt noch heute vorwiegend durch die Zeitung, oder der Arbeitsuchende Pflegt sich beim Thore der Fabrik anzufragen. In der Schuhwaarengalanteriebranche pflegen sich die Arbeiter einer privaten Stellenvermittlung zu bedienen. Weder der Verein für Arbeitsvermittlung, noch die Fachvereine, am wenigsten die gewerblichen Genossenschaften füllen die vorhandene Lücke aus.

Was speciell unsere damit im engsten Zusammenhange stehende Gewerbegesetzgebung betrifft, so hat die Enquete auch auf ihre Bedeutung für das gewerbliche Leben interessante Streiflichter geworfen. Unsere Gewerbegesetzgebung steht vielfach nur auf dem Papiere, die Genossen­schaften führen ein Scheinleben und erfüllen die ihnen zugewiesenen Aus­gaben nicht, sei es, daß die zur Leitung geeigneten Persönlichkeiten fehlen, sei es. daß es an dem nöthigen Ernste und an den Mitteln mangelt, sei es endlich auch, weil viele Gewerbe dem engen Rahmen, in den sie die Gesetzgebung spannen wollte, entwachsen sind. Ein großer Theil des Handwerkes hat nicht blos den goldenen Boden, sondern auch den selbst- ständigen Boden verloren, der Mann führt noch den stolzen Titel eines