Hochgeehrte Versammlung!

Das Präsidium des Vereines für erweiterte Frauenbildung, welchem Vereine als Ausschussmitglied anzugehören ich für die kurze Zeit meines Wiener Aufenthaltes die Ehre hatte, hat mich aufgefordert, heute vor Ihnen in knappen Zügen ein Bild von dem Leben und Streben der Studentinnen in Zürich zu entwerfen. Ich gestehe, dass ich der Aufforderung mit einem gewissen Zagen folge. Wie so häufig ein arbeitsames Leben nur durch die Fülle empfangener Eindrücke Demjenigen, der es lebt, reich, jedem Zuschauer indess monoton erscheint, so bietet auch das Leben einer Studentin mit seinem regelmässigen Wechsel von Arbeit und kurzen Erholungspausen nach aussen hin sehr wenig des Bemerkenswerthen. Und doch ist gerade in Wien die Frage: Wie haben Sie in Zürich gelebt? so oft an mich herangetreten, dass ich die erwähnte Bitte nicht ganz als ungerechtfertigt von der Hand weisen konnte.

Wenn ein Verein, dessen Hauptbestreben dahin geht (zunächst durch Ermöglichung einer entsprechenden Vorbildung), den Frauen die Universitäten zu erschliessen, eine studirende Frau ersucht, über das Leben der Studentinnen zu sprechen, so lässt sich der Gedanke an eine geplante Propaganda kaum von der Hand weisen; mit anderen Worten: man setzt von mir voraus, dass ich den Gegenstand in einem Sinne behandeln werde, der den Tendenzen des Vereines entspricht. Meine Damen und Herren, Sie werden wiederholt der Thatsache begegnen, dass gerade Frauen, welche vordem, als sie erst mit dem Gedanken an ein zukünftiges Studium umgingen, keine Gelegenheit vorüber­gehen Hessen, ihren Emancipations! deen Ausdruck und Geltung zu verschaffen, nach absolvirten Studien zu den passivsten Vertretern der Frauenfrage gehören. Wie erklärt sich dies? Sind jene Frauen inzwischen enttäuscht werden? Haben sie Schiffbruch erlitten an ihren Idealen, den Glauben an ihre Sache verloren? Oder sind sie stumpf geworden und so erfüllt von ihren Be­rufspflichten, dass ihnen Interesse und Zeit für allgemeine Fragen mangelt? Ich glaube nein. Ich glaube nur, sie haben Erfahrungen gesammelt. Sie haben erfahren, dass sich zwar mit Worten trefflich streiten lässt, dass es aber mit dem Siege, mit der Eroberung durch das Wort gerade in ihrer Sache schlecht bestellt ist. Das lebendige Beispiel, die Leistungen und das Auftreten der Frau werden in der nächsten und vielleicht in aller Zukunft, speciell in den deutschredenden Ländern, das wirksame Moment bleiben. In dieser meiner Ansicht ist es gegeben, dass ich mich in dem Folgenden auf eine schlichte, wahrheitsgetreue Erzählung beschränken werde. Es kommt noch eins hinzu, was mich hindert, mehr als einfach zu schildern oder durch Unterschlagung von Thatsachen oder propagistisch ge­färbte Illustrationen Concessionen an das Publicum zu machen. Dies ist meine mangelnde Bekanntschaft mit den Wiener Verhältnissen: es fehlen mir die Vergleichspunkte.

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