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Mme. Kermomar, welche als Inspectrice der Volksschulen und anderer Institute das ganze sittliche Elend der Grossstadt zu beobachten Gelegenheit hat, sprach sich dahin aus, dass die verkehrte, getrennte Erziehung von Knaben und Mädchen verhängnissvoll sei. Sie schilderte dabei sehr drastisch, wie sie eine junge Lehrerin, um ihr bei der Inspection zu Hilfe zu kommen, ersucht habe, zu wiederholen, was soeben durchgenommen sei. Diese wendet sich zu den Knaben, welche durch ein Gitter von den Mädchen getrennt sitzen, und fragt: »Was sollt ihr nicht thun?« »Wir sollen die Mädchen nicht ansehen, nicht mit ihnen gehn, oder spielen etc.« »Was thut ihr, wenn ihr sie doch anseht?« »Wir thun eine Sünde.« Dementsprechend Frage und Antwort auf der anderen Seite.

Die Discussion führte zu der Resolution, die gemischte Schule auf allen Stufen anzunehmen. Während ich früher ein grosses Vorurtheil dagegen hatte, Knaben und Mädchen gemeinsam zu erziehen, haben wieder­holte Besuche in Skandinavien und besonders Finnland meine Ueberzeugungen so sehr geändert, dass ich in Paris nicht nur für die gemischte Schule stimmte, sondern über meine persönlichen Wahrnehmungen in Skandinavien berichtete. Doch will ich damit nicht sagen, dass die gemischte Schule überall am Platze ist, denn jedes Ding bedarf einer gewissen Vorentwicklung.

Die zweite wichtige Resolution, welche ich nicht übergehen darf, soll ich Ihnen vom Frauen-Congress berichten, wurde von jungen Pariser Advokaten angeregt und lautete dahin, dass der Mann sich nicht weniger zu verantworten habe auf sittlichem Gebiete als die Frau.

Alles, was sonst noch besprochen wurde, waren im Grunde nur Con- sequenzen der beiden angeführten Resolutionen, denn mit der gleichen Bildung, den gleichen Leistungen, muss nothwendig sich das gleiche Recht entwickeln.

In den Rahmen Ihres Vereines gehört auch besonders der weibliche Arzt. Der Pariser Congress fasste nicht nur, wie Ihre Petition, meine geehrten Damen, den Frauen- und Kinderarzt ins Auge, sondern gab noch zwei andere Gesichts­punkte: den weiblichen Arzt im Orient, wo die Sitte den männlichen Arzt aus jedem mohamedanischen Frauengemache weist und den weiblichen Amtsarzt für polizeilich beaufsichtigte Frauen.

Dass die Verhandlungen Fragen berührten, welche sich schwer von Herren und Damen besprechen lassen, befremdete mich anfangs. Doch wurden die heiklen Dinge mit Anstand und Würde erledigt.

Die achtzig Berichte waren ermüdend. Ob das Einzelne auch noch so interessant war die Zahlen und Daten rauschten dahin, ohne einen Eindruck zu hinterlassen. Die Discussionen dagegen haben bleibenden Eindruck gemacht und zu den Resolutionen geführt. Ob die Protokolle bereits herausgegeben sind, kann ich nicht sagen.*)

Was dem Einzelnen viel Anregung gewährte, waren das gemeinsame Frühstück, an dem sich ein Theil der Gesellschaft betheiligte, und die Feste. Dadurch wurden persönliche Beziehungen geknüpft. In den Räumen der Seine- Präfectur war am ersten Abend Empfang; Pariser Künstler gaben eine Soiree mit dramatischen und musikalischen Aufführungen, der Minister Guyot ver-

*) Im Juni 1890 erschienen.