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Ich war begeistert. Jeder einzelne Sozialdemokrat, den ich aus der Zeitung kennen lernte, erschien mir wie ein Gott. Daß ich selber ihre Mitkämpferin werden könnte, fiel mir gar nicht ein. So hoch und erhaben erschien mir alles, was ich von ihnen las, daß es mir phantastisch vorgekommen wäre, auch nur daran zu denken, daß ich unwissendes, unbekanntes und armes Geschöpf auch einmal tätigen Anteil an ihren Bestre­bungen nehmen könnte.

Es kam zu Arbeiterunruhen; die Arbeitslosigkeit hatte großen Umfang angenommen, ganze Ge­werbe stockten und die Polizei glaubte die Unzufrieden­heit und zunehmende Not mit Lhikanen unterdrücken zu können. Sie löste Fachvereine auf und konfiszierte die Rassen. Das steigerte selbstverständlich die Em­pörung und es kam zu demonstrativen Umzügen. Als sich diese wiederholten, rückte Militär in diebe­drohten" Straßen.Gewehr bei Fuß" undhoch zu Roß" wurden sie aufgestellt. Ich stürmte abends aus der Fabrik in höchster Erregung auf den Schauplatz der Ereignisse. Das Militär schreckte mich nicht, ich wich erst vom Platze, alsgeräumt" wurde.

Um diese Zeit lernte ich einen Arbeiter kennen, der außerordentlich intelligent war. Er war ganz anders wie alle anderen, die zu meinem Bekannten­kreis gehörten. Er war viel gereist, hatte in Rußland und in England gelebt und war nun zurückgekehrt. Seine Bildung war eine umfassendere, er hatte eine Mittelschule absolviert und war dann durch eine finanzielle Ratastrophe in seiner Familie gezwungen