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worden, Arbeiter zu werden. Er war der erste Sozial- deinokrat, mit dem ich bekannt wurde. Der Partei gehörte er aber offiziell nicht an, er war in keinem Verein Mitglied und las nur die Schriften der Partei. Von ihm erhielt ich viele Bücher, mit ihm konnte ich über alles reden, was ich dachte und empfand. Von ihm ließ ich mich auch über den Unterschied zwischen Anarchismus und Sozialismus aufklären. Von ihm hörte ich auch zum erstenmal was eine Republik sei und trotz meiner früheren dynastischen Schwärmereien entschied ich mich für die republikanische Staatsform. Ich sah alles so nahe und greifbar, daß ich förmlich die Wochen zählte, die bis zur Umwälzung des Staats­und Gesellschaftswesens noch vergehen mußten.

Von diesem Arbeiter erhielt ich auch die erste sozialdemokratische Zeitung. Er kaufte sie nicht regel- mäßig, sondern nur wenn er gerade dazu kam, wie dies leider so viele machten. Ich aber bat ihn jetzt, sie jede Woche zu bringen und wurde selbst ständige Käuferin. Die theoretischen Abhandlungen konnte ich nicht sofort verstehen, was aber über die Leiden der Arbeiterschaft geschrieben wurde, das verstand und begriff ich und daran lernte ich erst mein eigenes Schicksal verstehen und beurteilen. Ich lernte einsehen, daß alles was ich erduldet hatte, keine göttliche Fügung, sondern von den ungerechten Gesellschaftseinrichtnngen bedingt war. Mit grenzenloser Empörung erfüllten mich die Schilderungen von der willkürlichen Hand­habung der Gesetze gegen die Arbeiter. Die Aufhebung der Ausnahmegesetze, unter welchen die Sozialdemo-