64

tun müsse. Ich hatte das damals noch nicht genau auszudrücken verstanden, aber tatsächlich war ich von dieser Anschauung beherrscht, wenn ich in der Iausen- pause mit Wärme und Lebhaftigkeit den Inhalt meiner Zeitung vortrug und zu erklären versuchte, so kam es manchmal vor, daß einer der Komptoir-Beamten vorüberging und kopfschüttelnd zu einem anderen sagte:Das Mädel spricht wie ein Mann."

Meine Zeitung holte ich mir jetzt jede Woche selbst. Als ich das erstemal den Verkaufsraum des sozial­demokratischen Blattes betrat, war mir zu Mute als betrete ich ein Heiligtum. Und wie ich meine ersten zehn Kreuzer für den Wahlfond unter dem Motto:Hefter Wille" ablieferte, da fühlte ich mich schon als ein Glied der großen Kämpferschar, obwohl ich noch keinem vereine angehörte und außer dem Freunde meines Bruders, noch keinen Sozial- demokraten gesprochen hatte.

Da ich in meiner Zeitung immer las:werbet neue Abonnenten!"verbreitet Eure Zeitung", be­mühte ich mich in diesem Sinne zu wirken. AIs ich dann jede Woche nicht nur eine Zeitung, sondern zwei, dann drei und schließlich gar zehn Stück holen konnte, da war mein Hochgefühl mit nichts mehr zu vergleichen. Mein weg um die Zeitung hatte immer etwas Heiertägiges für mich. Ich zog an diesem Tage mein schönstes Kleid an, so wie früher, wenn ich in die Kirche ging.

Obwohl in der sozialdemokratischen Zeitung über Religion wenig geschrieben wurde, so war ich doch von