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allen religiösen Vorstellungen frei geworden. Es war das nicht mit einem Mal gegangen, es hatte sich lang­sam entwickelt. Ich glaubte nicht mehr an einen Gott und an ein besseres Jenseits, aber es kamen mir doch immer wieder Bedenken, ob es nicht vielleicht doch etwas gebe. An denselben Tag, an dem ich mich bemüht hatte, meinen Kolleginnen zu beweisen, daß die Er­schaffung der Welt in sechs Tagen nur ein Märchen sei, daß es einen allmächtigen Gott nicht geben könne, weil dann so viele Menschen nicht so harte Schicksals­schläge erdulden müßten, am Abend desselben Tages, faltete ich doch wieder die Hände, wenn ich in meinem Bette lag und hob meine Augen zu dem Marienbild empor.Vielleicht doch", dachte ich unwillkürlich immer wieder. Gesagt hätte ich es keinem Menschen, daß mich noch solche Zweifel quälten. Aber die Schil­derungen über Sibirier! und die schrecklichen Dinge, die aus der Petersburger Schlüsselburg in die Öffent­lichkeit drangen und die ich aus meiner Zeitung erfuhr, benützte ich, um meinen Kolleginnen zu beweisen, daß es keinen Gott geben könne, der die Geschicke der Menschen beeinflußt.

Meine sozialdemokratische Überzeugung wurde immer bestimmter und ich mußte in der Fabrik vieles erdulden. Mein unmittelbarer Vorgesetzter, der über unseren ganzen Saal seine tyrannische Macht ausübte, war immer brutal und mürrisch. Mir erschien er jetzt geradezu als ein Teufel. Er war der erste Mensch, den ich wirklich haßte und obwohl viele^ Jahre ver­flossen sind, seit ich seiner Machtsphäre entrückt bin,

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