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Wie sich meine Mutter zu meinen Idealen und zu meiner Tätigkeit stellte will ich noch erzählen und dies ist noch eines der traurigsten Kapitel in meinen Erinnerungen. Die alte Frau, die auf eine Kette von Leiden und Entbehrungen zu­rückblickte, die unter schrecklichen Verhältnissen jedes zweite Jahr ein Kind geboren hatte, das sie dann sechzehn bis achtzehn Monate an ihren Brüsten nährte, um länger vor einem neuen Wochen­bett bewahrt zu bleiben, diese Frau, die verkümmert und frühzeitig von harter Arbeit gebeugt war, konnte sich für ihre Tochter kein anderes Los vorstellen, als eine gute Ehe. Ihre Tochter gut zu verheiraten war ihr Linnen und Trachten und gar viel mußte ich aus­stehen, wenn ich mich gegen eine Ehe wehrte, die nur den Zweck gehabt hätte, mir mein Los zu erleichtern und mich von der Fabrik zu befreien. Heiraten und Kinder bekommen, sah sie als die Bestimmung des Weibes an. So sehr ihr anfangs die Lobreden, die sie über mich hörte, schmeichelten, eben so sehr änderte sich das, als sie einsah, daß ich mein ganzes Leben meinen Bestrebungen widmen wollte. Je mehr ich als Rednerin verwendet wurde, um so un­williger wurde sie.

Obwohl sie nicht eigentlich religiös war, dazu hatte ihr das Leben zu hart mitgespielt, so hing sie doch sehr an dem Schein. Meine der Religion nun ganz abgewandte Anschauung erregte ihren Unwillen und sie sprach alles nach, was sie von unwissenden oder böswilligen Menschen über die Sozialdemokraten