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Das mag wohl im Blute liegen; in dieser Hinsicht ist Wien wirklich eine Theaterstadt.

Frl. Fickert: Glauben Sie, daß, abgesehen von der allgemeinen Bildung, welche das Conservatorium vermittelt, die Schauspielschulen nicht fördernd, sondern eher verflachend auf wirklich große Talente wirken? Exp. Niedt: Zu jener Zeit, als ich zum Theater ging, da waren die Verhältnisse etwas anders. Ich weiß nicht, ob ich behaupten darf, daß sie besser waren; man sagt, die dramatische Kunst gehe rückwärts. Ich, der ich in der Sache selbst stehe, kann das nicht ohneweiters unterschreiben, kann es aber auch nicht bestreiten. Das, was ich in früheren Zeiten an guten, mittleren und auch an kleinen Bühnen gesehen habe, ist mir bedeutend besser erschienen als das, was ich jetzt sehe. Ich will das nicht als maßgebend hinstellen, weil mich dazumal die Begeisterung, die mich zum Theater führte, die Sache in einem schöneren Lichte sehen ließ und den Augen der Jugend alle Dinge mit einem ganz anderen Nimbus erscheinen als den kritischen Augen des späteren Alters. Aber auch von vielen anderen Seiten wird behauptet, die Kunst gehe rückwärts, und Viele sagen, daß daran thatsächlich der Schulunterricht Schuld trage. Früher, zu der Zeit, von der ich sprach, da legte man darauf Gewicht, daß ein Schauspieler auf der Bühne selbst seine Schule durchmache. Damals ging man in die Provinz zu kleinen reisenden Gesellschaften, die heute auf die denkbar niedrigste Stufe gesunken sind, damals aber thatsächlich die Theater­schulen waren. Wir mußten für kleine Gagen große und kleine Rollen spielen, und so entwickelten sich denn wirklich große und tüchtige Kräfte. Dann kam man an eine größere ständige Provinzbühne, dann zu einer noch größeren und so fort von Stufe zu Stufe. Es gab Zeiten, wo man an einem Hoftheater nicht engagirt werden konnte, wenn man nicht so und so viel Theater durchgemacht hatte. Ich entsinne mich, daß mein Vater, der Schauspieler war, am Wallner-Theater in Berlin engagirt war. Man machte ihm nun die Proposition, an's Berliner Hoftheater zu gehen unter der Bedingung, daß er vorher nach Lübeck ginge, dann in mehrere andere Theater, und dann erst konnte er, trotzdem man wußte, daß er als Schauspieler brauchbar war, an's Berliner Hoftheater gehen. Das war zwar für viele Talente hemmend, es war aber in manchen Bezie­hungen gut. Heute schlägt man in's Gegentheil um. Man nimmt das Theater, wo man es findet, und dazu sind die Agenten da, die es aufsuchen. Es wäre außerordentlich schön, wenn die Agenten von der Größe ihres Berufes erfüllt wären; aber unter Umständen nehmen sie nicht das Talent, sondern das, was sie für Talent halten; unter Umständen kommt noch die Protektion hinzu, und so kann es sich manchmal ereignen, daß große Talente in der Provinz zu Grunde gehen und Talentlose auf großen Bühnen paradiren.

Vorsitzender: Ich bitte Sie, uns nunmehr etwas von dem Ueber- gange von der Schule in's Leben mitzutheilen. Exp. Niedt: Ich glaube sagen zu können, daß ein Lehrer mit der Zeit wohl jeder Schülerin ein Engagement in der Provinz verschaffen kann. Die Verhältnisse in der Provinz sind schlecht. Selbstredend sind die Provinzialdirectoren nicht auf Lorbeeren gebettet. Ihre Auslagen für Steuer, Regie u. f. w. sind sehr groß, so daß der eigentliche Gagenetat ganz unglaublich niedrig ist. Des- halh sehen diese Theater darauf, möglichst billige Leute zu bekommen, wenn dieselben auch gar kein Talent besitzen.

Vorsitzender: Dauert es lange, bis ein Mädchen irgend ein Anfangsengagement erhält? Exp. Niedt: Die Zeit des Abschlusses von Engagements ist jetzt, im Frühjahr. Da kommen die Directoren nach Wien in die Schulen, fthen und hören die Leutchen an, und was ihnen convenirt, was ihnen nicht zu theuer ist, engagiren sie für den Herbst, wo