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Die Religion und ihre Kunde ist fast bei allen Völkern in den ersten Jahrhunderten ihres Lebens das ausgezeichnete Kennzeichen einer hohen Bildung. Es findet sich in ihr und ihren Glaubenssätzen die Summe aller Wissenschaft, welche ein Volk besitzt. Und die Frauen sind bei den Germanen die Träger dieser Bildung und die Gewahrer dieser Wissenschaft. Nicht nur zur Zeit, als das Volk in den Hainen und Wäldern den Göttern opfert, sondern auch zu jener Zeit, als es dem Welterlöser Tempel baut. Horace Walpole sagt: Kein Weib hat jemals eine neue Religion erfunden, und doch ist keine Religion anders als durch Weiber ausgebreitet worden." Die heidnischen Germanen beten vor dem Altar, an dem eine Priesterin den Göttern opfert, sie hören von Weibern die Enthüllung der Zukunft und wenden sich in ihren Nöthen an den begeisterten Rath ihrer geheimnißvollen Heldinen. Und als der Funke des Christenthums in die Mitte des Volkes fällt, da fachen ihn die Weiber zuerst zur Flamme an, tragen das Licht in die Herzen des ganzen Volkes und aus klösterlicher Einsamkeit treten sie hervor als Weise und Gelehrte, als Sänger und Dichterinen ihres Volkes. Sie sind noch zu einer Zeit, als das deutsche Volk Europa beherrscht, und die Geschicke des alten Welttheiles bestimmt, weit überwiegend die Zahl der Männer, aus­gerüstet mit einer Bildung, der selbst hervorragende Geister unter den Männern noch ferne stehen. Wolfram von Eschen- bach verstand weder zu schreiben, noch zu lesen, und bekannt ist, daß Ulrich von Liechtenstein wohl 14 Tage ein Briefchen seiner Geliebten bei sich tragen muß, ehe er Jemand findet, der ihm die Zeilen entziffert.

In noch viel überwiegenderem Maße ruht die wirt­schaftliche Macht in dem weiblichen Geschlecht. Die gesammte

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