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man kann dort nicht vor das Haus fahren, wie hier. Sieh, liebe Ger­trud, der armen Leute halber komme ich heute zu Dir, Du sollst sie unterstützen helfen!"Von Herzen gern," rief diese freudig,doch mache es Dir erst bequem, dann sprechen wir weiter darüber!"

Leonie war die Tochter der Justizräthin Brühl, mit Gertrud von der Schule her befreundet. Ihr Vater war früh gestorben und hatte der Gattin außer der guten Pension noch ein anständiges Vermögen hinter­lassen. Mutter und Tochter lebten also in guten Verhältnissen, sie lebten auch in einem Taumel von Vergnügungen. Es gab kaum einen Ball, kein Concert, keine schöne Oper, keine Kaffeegesellschaft, welche die Damen nicht besucht hätten. Die Justizräthin verband dann das Nützliche mit dem Angenehmen, sie war Vorsteherin vieler Vereine, und in den Gesell­schaften gab es gewöhnlich neue Beiträge. Die Justizräthin war besorgt für das Wohl und die Frömmigkeit ihrer Nebenmenschen, aber ihr eigenes Töchterchen gottesfürchtig zu erziehen, daran dachte sie nicht. Leonie war von Natur ein gutherziges Mädchen, aber sehr launig und verzogen. Ihr Aeußeres war keineswegs ansprechend. Sie war groß und mager, hatte geistlose Augen mit einem unstäten Blick. Ein unstäter Blick fällt sehr aus. Nichts fesselt wohl mehr, als ein klares ruhiges Auge. Auf die Farbe kommt es nicht an, aber auf den Ausdruck, es ist ja der Spiegel der Seele! Nach diesem kurzen Einblick in Leoniens Verhältnisse kehren wir zu den beiden Mädchen zurück. Nachdem Gertrud der Freundin beim Ablegen der Sachen behilflich gewesen war, nöthigte sie diese auf den Sophaplatz und setzte sich neben sie. Das Dienstmädchen ordnete den Kaffeetisch und Gertrud goß den duftenden heißen Trank in die zierlichen Tassen. Leonie griff wacker zu, dann lehnte sie sich behaglich zurück und fing an zu erzählen:Du weißt, daß neben Euch ein größeres Haus gebaut worden ist mit Arbeiterwohnungen. In einer dieser Wohnungen wohnt nun auch seit einigen Wochen die arme Familie Müller, von der ich Dir sagte. Wir kennen sie schon lange, sie wohnten bis jetzt ganz in unserer Nähe, es waren fleißige, sparsame Leute, doch der Mann, der sonst so viel erwarb, ist schon längere Zeit krank, dadurch sind sie so sehr zurückgekommen! Die arme Frau hat nun eine furchtbare Last! Fünf kleine Kinder sind auch da und eine blinde Mutter.Das ist ja sehr traurig," sagte Gertrud leise.Ja" fuhr Leonie fort,und das jüngste Kind ist dreiviertel Jahr alt, ganz verwachsen und verkrüppelt, dabei hat es wohl die Auszehrung. Nie sah ich solch ein schreckliches Kind! Doch