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von dieser Last haben wir die Frau Müller schon befreit! Du weißt wie praktisch meine Mama ist! Den ganzen Vormittag ist sie gestern in der Stadt umhergelaufen, bei vielen Damen, und hat Geld gesammelt, ist dann zu einem Stift gefahren und hat dort ein Asyl ausgemacht für das kleine Ding. Heute Morgen wurde es dorthin gebracht, aber meinst Du, dessen Mutter wäre dankbar gewesen und hätte sich im Geringsten gefreut? Bewahre! Sie war ganz außer sich, weinte und sagte, sie könnte sich von ihrem Kinde nicht trennen! Kannst Du Dir das denken, sich nicht trennen können von solch einem schrecklichen, elenden Wesen. Wir mußten es ihr fast mit Gewalt fortnehmen, nur Mama's fortwährendes Bitten und Zu­reden, daß sie das Kind ja immer besuchen könnte, daß es im Stifte viel bessere Pflege hätte und wenn es ganz gesund wäre gleich wieder zu ihr kommen sollte, beruhigte sie etwas. Aber besser kann es gar nicht wieder werden, das sagte der dortige Arzt auch gleich!" Gertrud hatte schweigend, doch aufmerksam zugehört, jetzt sagte sie:Es ist gewiß sehr schwer für eine Mutter sich von ihrem Kinde zu trennen, besonders wenn sie glauben muß, es lebend nicht wieder zu sehen!"Oh, das weiß sie ja nicht," be­schwichtigte Leonie,wir haben ihr natürlich die größte Hoffnung gemacht!" Aber das halte ich für sehr unrecht, die arme Frau so zu täuschen!" äußerte Gertrud.Nicht doch, meine Liebe, es war dies nur eine kleine Nothlüge, ein Mittel zum guten Zweck!"Sogenannte Nothlügen sind auch unrecht," äußerte Gertrud.Wir wollen darüber nicht streiten," sagte Leonie in etwas ärgerlichem Tone,jedenfalls ist der Frau durch Fortschaffung des Kindes eine große Hilfe geschehen!"Wenn sie es nur erträgt," sprach die Andere leise.Erträgt?" fuhr Leonie heftig auf, das wird und muß sie!"Ich denke an meine eigene Mutter, sie hätte das nicht ertragen eines ihrer Kinder in solch zartem Alter von sich zu geben! Ach, besonders wenn wir einmal krank wurden, war ihre Liebe und Sorgfalt doppelt groß; jede Mutter hat ihr Kind lieb." Leonie wußte nichts mehr zu sagen, es entstand eine längere Pause, die Gertrud damit ausfüllte die Vorhänge niederzulassen und die Lampe anzuzünden, es war bereits recht dunkel geworden. Der Kaffeetisch wurde abgeräumt, und als die beiden jungen Mädchen mit Handarbeit beschäftigt wieder nebeneinander saßen, fing Gertrud an:Was, meinst Du, soll ich für die arme Familie thun? Fehlt es auch an Kleidung oder ist nur Geld­mangel dort?"Ich dachte mir, Du könntest besonders für den kranken Mann kräftiges Essen hinschicken, doch fehlt es an Kleidung auch sehr!