73

und dankte dem lieben Gott heute für Alles, für ihre gesunden Augen, für den guten Papa und die lieben Geschwister und für den Reichthum, womit sie armen Menschen helfen konnte und stets zu helfen beschloß.

Wenige Tage später, Gertrud saß wieder allein im traulichen Zimmer, klopfte es leise an die Thür und aus Gertruds Ruf trat eine blasse Frau herein.Entschuldigen Sie, Fräulein Walter, ich bin die Frau Müller und habe eine große Bitte an Sie!"Gern, gern liebe Frau," sagte das junge Mädchen und griff schon nach der Börse.Ach, mein Fräulein, das ist es nicht, Sie haben uns ja mit Allem so reichlich versehen! Ich habe eine andere Bitte!" Und in lautes Schluchzen ausbrechend, rief sie: Mein Kind, mein liebes kleines Kind, ich kann die Trennung nicht aus­halten! Helfen Sie um Gotteswillen, helfen Sie mir mein Kind wieder zu erhalten!" Gertrud war betroffen, sie wußte im Augenblick nicht recht, was sie sagen sollte. Sie bat die Frau sich zu beruhigen und nöthigte zum Sitzen.Ich kann mir ja denken, liebe Frau, daß die Trennung Ihnen schwer wird! Wenn Sie es nicht aushalten können, da giebt es wohl kein anderes Mittel, Sie müssen Ihr Kind wiederholen! Wer kann es Ihnen vorenthalten?"Ach ja, ich bin auch schon mehrere Male hinge­gangen zu der Frau Justizrath Brühl, die hat ja im Stifte die Stelle ausgemacht, ohne deren Einwilligung geben sie mir das Kind nicht wieder mit, ich treffe aber die Dame nie zu Hause! Ach ganz anders habe ich mir alles gedacht, sonst hätte ich mein Kind nicht fortgegeben! Und wie ungern that ich's überhaupt, mit Gewalt haben sie mir's am Ende fort­gerissen. Im Hause habe ich keine Ruhe mehr, kein Essen und Trinken rühre ich an und geschlafen habe ich noch gar nicht seit mein Willy fort ist!" Die Frau fing heftiger an zu weinen, Gertrud hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und sprach ihr beruhigend zu:Fräulein Brühl hat mir von Ihnen erzählt, liebe Frau, ich dachte mir gleich, daß Sie das Kind vermissen würden, solch kleines zartes Wesen hat es auch am besten bei der Mutter!"Gott segne Sie für Ihre Worte! Sie glauben nicht, ach Sie können nicht fühlen, wie einer Mutter zu Muth ist! Auch mein guter Mann weint nach dem Kinde, und nun gar die alte blinde Mutter, die hat es immer gewartet! Die andern Kinder fragen oft: «Mutter, ist denn der kleine Willy todt?» Das geht mir durch's Herz, wenn mein Kind dort im Stift stürbe, ich könnte im Leben nicht wieder froh werden! Wenn es zu Hause bei mir stirbt, dann nimmt mir's der liebe Gott und ich füge mich seinem heiligen Willen aber so so haben mir's die