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sehen konnte, streichelte und befühlte sie das Gesichtchen des Kleinen, wie prüfend, ob es auch wirklich der kleine Willy sei! Für die arme Mutter sollte aber doch der kalte nasse Weg unangenehme Folgen haben. Schon am Abend klagte sie über starkes Kopf- und Halsweh und über Nacht verfiel sie in ein hitziges Fieber und phantasirte. Am folgenden Tage war wohl ihr Bewußtsein wieder da, aber die Kopf- und Halsschmerzen waren geblieben und sie war so schwach, daß sie unfähig war sich zu erheben. Auch der zweitjüngste Knabe, der kleine August, fing an zu klagen über dieselben Schmerzen, und der Arzt, der dann und wann kam, nach dem kranken Manne zu sehen, sagte, es sei ein Anfall von Bräune und verschrieb Arznei. So hatte die arme blinde Großmutter alles allein zu besorgen, aber der liebe Gott gab ihr die Kraft dazu, und es war merkwürdig, wie umsichtig, trotz der Blindheit, die alte Frau war! Aber der liebe Gott gab ihr auch eine Hilfe und das war die Zimmernachbarin, Frau Köhler. Diese brave Frau besorgte, trotzdem sie selbst so viel zu thun hatte, der Blinden Wasser und Feuerung herauf. Auch das älteste Großkind, die kleine Johanne, war eine treue Stütze der alten Frau. Konnte Großmutter etwas nicht finden, so wußte die Kleine von Allem Bescheid und wie schön konnte das Kind Feuer anmachen und Kartoffeln schälen! Sie war von früh bis spät fleißig, that Alles mit Freuden und so ging es ihr, wie es in dem Sprichwort heißt:Lust und Liebe zum Dinge, macht Mühe und Arbeit geringe!" Ja, die kleine Johanne konnte vielen großen Mädchen als Muster hingestellt werden. Nachdem Gertrud zwei Tage auf Nachricht von Frau Müller vergeblich gewartet hatte, machte sie sich selbst auf den Weg zu ihr. Elfe und Anna hatten sie gern wieder begleiten wollen, aber sie wollte allein erst einmal nachsehen und vertröstete die Mädchen auf das nächste Mal. So stieg sie nun wieder die Treppe zu Müllers hinan und öffnete gleich die Thür der Stube, die den Durch­gang zur Küche bildete, aber betroffen von dem Anblick, der sich ihr bot, blieb sie aus der Schwelle stehen. Auf dem Sopha lag in Kissen und Decken die Frau Müller, im linken Arme den kleinen fiebernden August, während zu ihrer Rechten die Wiege mit dem kleinen Willy stand. Es war ein rührendes Bild und Gertrud trat leise näher. Die Frau schlief, der kleine August auch, nur Willy lag wachend und schaute das junge Mädchen mit seinen großen blauen Augen verwundert an. Gertrud sah das Kind heute zum ersten Male, sie beugte sich über dasselbe und betrachtete es aufmerksam. Das war also das kleine Wesen, welches die Frau Justizräthin

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