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und Leonie als soabschreckend" bezeichnet hatten. Und doch war es solch ein feines kluges Kindergesichtchen, das ihr entgegen sah, von blonden Haaren eingerahmt, so weiß und zart von Haut, daß jede Ader durch­schien. Nein, abschreckend war das Kind nicht! Freilich den kleinen ver­wachsenen Körper konnte Gertrud nicht sehen und nun die kleinen Händchen, die Arme, so etwas traurig Abgemagertes hatte sie noch nie gesehen! Jetzt hustete das kleine Ding und da erwachte gleich die Mutter. Ihr Blick fiel auf Gertrud und mit glücklichem Lächeln ihr die Hand entgegenstreckend, sagte sie:Ich habe meinen kleinen Willy wieder! Auf dem Wege vom Stift hierher habe ich mir eine tüchtige Erkältung geholt, aber ich will es gern ertragen, das wird ja auch vorübergehen! Und denken Sie sich die Gnade von Gott, mein lieber Mann ist auch etwas besser, er ist heute seit langer Zeit zum ersten Male ein Viertelstündchen außer Bett gewesen und hat hier bei mir und den Kindern gesessen. Gertrud äußerte ihre Freude darüber und Frau Müller erzählte nun Alles umständlich, was sich bei der Frau Justizräthin und im Stifte zugetragen hatte. Als sie geendet hatte, fragte sie plötzlich mit thränenden Augen: Was meinen Sie, Fräulein Walter, muß ich mein Kind verlieren?" Das steht bei Gott, liebe Frau Müller, doch halte ich das Kind nicht für so krank, als es mir beschrieben wurde; freilich ist es so zart wie ich nie ein Kind sah! Hat ihm denn der Weg vom Stifte nichts geschadet?" Ach wohl," seufzte die Frau,den bösen Husten hatte er vorher nicht!" Gertrud machte ihr sanfte Vorwürfe und sagte:Wie gern würde ich Sie mit dem Kinde zu Hause gefahren haben, wenn ich nur darum ge­wußt hätte! Wir Beide wollen nun für das Kind thun, was in unsern Kräften steht, nicht wahr Frau Müller? Ich komme einmal mit unserm guten alten Hausarzt, der wird mir sagen, womit wir dem Kleinen wieder aufhelfen!"Gebe der liebe Gott seinen Segen dazu," sagte die blinde Großmutter, die leise eingetreten war. Gertrud schüttelte ihr die Hand und sprach sich bewundernd aus über ihre treue Pflege.Ich bin dem Herrn so dankbar, daß er mir alten blinden Frau die Freude schenkt mich nützlich machen zu können," sagte die Alte einfach. Gertrud kam nie mit leeren Händen, auch heute hatte sie ein Körbchen mitgebracht mit stärken­dem Wein, Fleisch, Speck und etwas Eingemachtem für den kranken Mann zur Erfrischung.Milch habe ich auch bestellt hier nebenan bei Bäckers, für unsern kleinen Willy! Johanne kann sie nur täglich holen, aber Geld wollen die Leute nicht haben," sagte Gertrud schelmisch lächelnd. Darauf