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Baumzweig hinein, um aus ihm ihre Nahrung zu ziehen. Das Mistel- stämmchen theilt sich vielfach zweigabelig und bildet ein kopfförmiges, rundes Büschchen von gelblich olivengrüner Färbung. Jede Zweigspitze entwickelt eine einfach gebaute, unansehnlich gelblichgrüne Blüthe, deren Theile 4zählig sind. Die Mistel ist zweihäusig, d. h. manche ihrer Büschchen tragen nur Blüthen mit Staubgefäßen; andere bringen weiße, von klebrigem Safte strotzende Beeren hervor, die vom Vogelsteller als Zusatz zum Vogelleim benutzt werden.

Die absonderliche Art der Mistel war schon in alten Zeiten den natursinnigen Bewohnern unsers Vaterlandes ausgefallen und von ihnen in Göttersagen und Naturmythen verwebt worden. Balder, der licht­bringende und lebenschaffende Sonnengott, war der Liebling der Götter und um ihn vor den Angriffen der bösen Naturmächte zu schützen, nahmen Odin und Freia Allem, was aus Erden, im Wasser und in der Luft lebt, einen feierlichen Eid ab: Balder nicht zu schaden. Auch alle Bäume und Sträucher, Kräuter und Gräser wurden vereidet. Dabei ward aber die Mistel übersehen, sie ist Keines von allem und wächst weder im Wasser, noch auf der Erde, noch in der Luft. Loki, der Dämon der Nacht und des Bösen, hatte es wohl gemerkt und sann auf Unheil. Bei den Waffen- übungen in Walhalla vergnügten sich die Götter damit, nach dem unver­wundbaren Balder mit Speeren zu werfen und mit Pfeilen zu schießen. Kein Geschoß erreichte und verletzte ihn. Loki aber hatte einen Pfeil aus dem Mistelzweig geschnitzt, legte ihn auf den Bogen des blinden Hödur und richtete ihn auf Balder. Da sank dieser schwer verwundet nieder zum Schrecken der Götter und der ganzen Welt. In der Zeit der Winter- Sonnenwende droht das Licht der Sonne zu verlöschen, bis es durch Odins Macht wieder geheilt wird und Balder sich allmälig genesend erholt.

Die absonderliche Art der Mistel ließ sie auch als mit besonderen Wunderkräften ausgestattet erscheinen. Von den Druiden der Kelten ward sie am 6. Januar, am Ende der heiligen Julzeit unter feierlichen Ge­bräuchen geschnitten. Am wunderkräftigsten galt sie, wenn sie auf einer Eiche gewachsen war, was freilich nur selten vorkommt. Bei uns bevor­zugt sie die Aepfel- und Birnenbäume, in den Waldungen Schwarzpappeln, Kiefern u. a.

Der abgeschnittene Mistelzweig durfte nicht die Erde berühren, er ward deshalb mit einem Faden an der Zimmerdecke frei aufgehangen. So