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Stunde gekommen war. Eine Andere, ganz Andere war sie in der kurzen Zeit geworden.

Sie betrat ihr Zimmer, aber sie dachte nicht an's Schlafen, doch aus anderen Gründen als vordem. Angekleidet warf sie sich endlich auf ihr Bett, aber ihre klopfenden Pulse, die Angst in ihrem Herzen litten sie nicht in dieser Lage. Sie sprang auf und sank mit gerungenen Händen neben ihrem Lager auf die Knie nieder.

Viola hatte, wenn sie betete, mehr eine Form, eine Gewohnheit erfüllt, ihr Gefühl hatte wenig damit zu thun gehabt. Jetzt dachte sie an keine Form; heiße, flehende, unzusammenhängende Worte rief sie zu Gott empor. Für ihre Eltern und ihren Bruder bat sie Gott, an ihre gekränkte Eitel­keit, an die Demüthigung, die ihr persönlich bevorstand, dachte sie nicht in dieser schrecklichen Nacht.

Den Kopf auf die gefalteten Hände gelehnt, brach sie endlich in mildes Schluchzen aus und weinend schlief sie ein. Sie befand sich noch in dem glücklichen Alter, wo der Schlaf auch über den schwersten Kum­mer siegt.

Frierend, mit schmerzenden Gliedern erwachte Viola mit Tagesgrauen.

Verwundert fand sie sich noch in ihren Kleidern und nicht in ihrem Bette.

Was hatte sie doch so Entsetzliches in dieser Nacht geträumt?

Geträumt? Nein, erlebt! Sie war wirklich im Mondschein auf der Terrasse gewesen und hatte dem Gespräch ihres Vaters mit dem Justizrath gelauscht. Sie wußte jedes Wort noch, was sie gesprochen.

Da lag auch der Mantel noch, wie er ihr beim Hereintreten von der Schulter geglitten war, mitten in der Stube.

Sie sollten Alle fort von hier, von der lieben, bekannten, trauten Heimath!

Sie sank auf einen Stuhl und stützte den Kopf in beide Hände. So saß sie lange und sann und grübelte.

Endlich stand sie auf, öffnete die Thür ihres Zimmers und eilte den Korridor entlang. Dort klopfte sie an eine Thüre.

Wer ist da?" frug eine verwunderte Stimme.

Ich, Viola, öffne!" flüsterte es zurück. Da ward der Riegel auf­geschoben und die beiden Cousinen standen sich gegenüber.

Jenny war im Morgenkleid, aber schon sauber und nett. Sie blickte auf den frühen Besuch wie auf eine Geistererscheinung.