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des Hauses, der würdige Hirt seiner Gemeinde, war den Seinen im besten Mannesalter durch einen plötzlichen Tod entrissen worden, und nur noch kurze Zeit konnte den Hinterbliebenen das Pfarrhaus eine Heimath sein.

In dem Wohnzimmer war fast die ganze Familie versammelt. Am Fenster saß die Frau Pastorin, eine bleiche ernste Frau, in deren Zügen der tiefe Schmerz ihrer Seele, aber auch eine sanfte stille Ergebung zu lesen war. Sie blickte von ihrer Näharbeit oft auf, um durch das Fenster nach ihren beiden jüngsten Kindern, zwei Mädchen von 4 und 3 Jahren zu sehen, welche vor dem Hause miteinander spielten. Die andern fünf Kinder saßen um einen großen runden Tisch in der Mitte des Zimmers, in eifrige Studien vertieft. Margarethe, das älteste vierzehnjährige Töchterchen, führte dabei den Vorsitz. Die kleine Anna las ihr vor, und dabei flogen Margarethe's Blicke auch zuweilen prüfend über die Schiefer­tafel der rechnenden Schwester Martha und die Schreibhefte ihrer Brüder. Jetzt schlug die Thurmuhr zehn Uhr. Die Söhne hörten mit Schreiben auf, Martha legte den Griffel fort, und Anna las nur noch den Satz, in dem sie sich eben befand, zu Ende. Die Mutter stand auf, um jedem der Kinder eine Butterschnitte zu reichen, und dann eilten sie hinaus, um die halbe Stunde der Erholung im Freien zuzubringen.

Nur Margarethe war bei der Mutter zurückgeblieben.Mein liebes Gretchen," sagte diese wehmüthig,heute ist der letzte Tag, an dem Du Deine Brüder unterrichtest!" Gretchen sah sie erstaunt an und die Mutter fuhr fort:Du weißt, daß heute früh der Graf Rassow, unser gütiger Kirchenpatron, hier gewesen ist. Ich habe Dir noch nicht gesagt, was er mir gebracht hat; es waren erfreuliche, tröstliche Nachrichten. Der edle Mann will Heinrich und Reinhold auf ein königliches Alumnat bringen, wo er ihnen Freistellen ausgewirkt hat; für ihre Bücher, Klei­dung und sonstigen Bedürfnisse will er Sorge tragen. Du kannst Dir denken, mein Gretchen, wie dankbar ich ihm bin. Gott sei Dank, der diese Sorge von meinem Herzen nahm!"

Der gute Graf!" rief Gretchen erfreut.O nun werden die Brüder etwas Ordentliches lernen, nun brauchen sie nicht Handwerker zu werden, wie Du es gefürchtet hast! Ach Mama, wenn ich doch auch etwas lernen könnte. Wie wollte ich Dich und die Geschwister dann unterstützen! Bei dem Selbststudium komme ich gar nicht vorwärts. Ach, es war so ganz anders, als der liebe Papa mich unterrichtete, und wie oft hat er zu mir gesagt: «Gretchen, Du sollst Dich zur Lehrerin ausbilden.» Es war ja