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bevor. In der dritten Stube herrscht jetzt ein Geist, der mir nicht ganz gefällt, obwohl die Zöglinge sehr fleißig und gehorsam und stolz darauf sind, die Zufriedenheit ihrer Erzieherinnen zu besitzen. Aber eben dies letztere ist der schwarze Punkt: sie bilden sich etwas ein auf ihre treue Pflichterfüllung. Da ist z. B. Emma von Drewenitz, ein reichbegabtes hübsches Mädchen mit aufrichtigem Streben und warmer Frömmigkeit. Sie ist der Stolz der dritten Stube und übt einen großen Einfluß auf die Andern aus. Sie ist sehr fleißig und bereits in einigen Gegenständen in der ersten Klasse, was mit 14 Jahren selten der Fall ist. Sie ist's gewohnt von keiner Andern übertroffen zu werden, von Dir wird sie aber in mancher Beziehung übertroffen werden."

Von mir?" fragte Gretchen erstaunt und sah die Tante an, nicht' wissend, ob sie im Ernst oder im Scherz sprach.

Ja, von Dir," wiederholte diese.Ich weiß ja ungefähr, wie es mit Deinen Kenntnissen steht, Dein guter Vater hat sich ja mit Deinem Unterricht so viel Mühe gegeben, und Deine Mama fürchtete oft, Du würdest eine kleine Gelehrte werden. Du weißt in manchen Dingen mehr als Emma und das wird ihr empfindlich sein. Ich fürchte, Du wirst an ihr keine freundliche Stubengenossin haben, wenigstens nicht in der ersten Zeit. Aber habe Geduld mit ihr, sie wird Dich zuletzt doch lieb gewinnen, und ich hoffe, sie wird Manches von Dir lernen. Dann befindet sich in der dritten Stube auch Adele von Lankwitz, von der Dir meine Schwestern schon erzählt haben."

Ach, das ist der Kobold?" fragte Gretchen bange.

Richtig, diesen Beinamen hat sie'sich zugezogen, weil sie Andern gar zu gern einen muthwilligen oder auch boshaften Streich spielt. Ihre Mitschülerinnen haben oft darunter zu leiden, und obschon oft deswegen bestraft, kann sie ihren Muthwillen doch nicht lassen. Da wirst Du nun vielleicht auch manchen kleinen Aerger zu überwinden haben, mein liebes Gretchen."

Ich will recht geduldig sein, liebe Tante Anna!" sagte Gretchen leise, und es war ihr, als hörte sie ihrer Mutter Stimme sagen: Wenn Du empfindlich bist, bereitest Du Dir selbst trübe Stunden und wirst Dir dadurch keine Freunde erwerben. Ihr war das Herz so schwer geworden bei Tante Anna's Worten.

Diese bemerkte es und sagte liebreich:Vor Allem vergiß niemals, daß Du immer zu mir kommen kannst, wenn etwas Dein Herz bedrückt,