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ganz verflossen, hier waren die meisten Zöglinge aber schon mit ihren Arbeiten fertig und beschäftigten sich nach eigenem Gefallen. Mademoiselle Dubied, welche heute hier die Inspektion hatte, war in das Lesen eines Buches vertieft. Sie erhob sich jedoch ebenso wie die Zöglinge und ihr wurde nun zuerst die kleine Neue zugeführt, die sie mit einigen freund­lichen französischen Worten begrüßte. Dann stellte Tante Anna Gretchens Stubengenossinnen vor, und es war natürlich, daß Gretchen aufmerksam aufblickte, als ihr die Namen Emma von Drewenitz und Adele von Lank- witz genannt wurden. Adele machte auf sie keinen guten Eindruck, aber die schlanke Emma mit den langen braunen Zöpfen, den regelmäßigen offenen Zügen und dem stolzen Blick der dunkelblauen Augen war eine sehr anziehende Erscheinung.

Nun, Kinder, macht Euch mit Eurer neuen Gefährtin bekannt," sagte Tante Anna,und damit dies leichter von statten gehe, erlaube ich Euch deutsch zu sprechen, obwohl Ihr heute den französischen Tag habt." Bei diesen Worten streichelte die Vorsteherin freundlich das traurige Gesicht ihrer kleinen Freundin und verließ dann das Zimmer, da schon mancherlei Geschäfte auf sie warteten. So saß Gretchen nun allein unter den fremden Kindern, welche die neue Stubengenossin, die so ganz un­erwartet und ohne vorherige Anmeldung zu ihnen gesellt wurde, mit einiger Neugierde ansahen. Gretchens Erscheinung kam ihnen allen halb lächer­lich, halb bemitleidenswerth vor. Allerdings konnte ihr schüchternes und sogar linkisches Wesen, namentlich in ihrer jetzigen Verlegenheit, dazu ihr abgetragenes schwarzes Kleid, das aus einem alten Kleide einer verstor­benen Großtante gemacht worden war, ein. wenig lächerlich erscheinen; aber der kindliche Ausdruck ihres bleichen Gesichtes, der sanfte Blick ihrer Augen mußte doch wieder Theilnahme für sie erregen. Die Französin fühlte die letztere und versuchte eine Unterhaltung mit ihr anzufangen, aber da Gretchen im Französischsprechen gar keine Geläufigkeit besaß und Mademoiselle Dubied nur gebrochen deutsch sprach, so ging es damit nicht gut, und die Erzieherin wandte sich wieder zu ihrem Buche, indem sie es den Kindern überließ, Gretchens nähere Bekanntschaft zu machen. Diese be­gannen denn auch mit einem Examen, welches den Neuen meistens bevor­stand, und alle möglichen Fragen stürmten auf Gretchen ein. Nur eine der Zöglinge, welche ihr als Aurelie Schwarz vorgestellt worden, bethei- ligte -sich nicht an der Unterhaltung, sondern saß von den Andern abgesondert mit einer Handarbeit still und schweigend da.