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Eines Morgens wachte sie sehr früh auf, da kam ihr. ein glücklicher Gedanke. Sie stand leise auf, zog sich an und ging hinüber in die dritte Stube; hier nahm sie Emma's Stickerei aus dem Nähkorb und stickte eifrig an ihren Schuhen, bis sie beinahe fertig waren. Dann legte sie sich noch einmal zu Bett, damit Niemand etwas merken solle. Aber nachher war sie doch sehr unruhig. Hatte sie vielleicht unrecht gehandelt? war es nicht vielleicht verboten, so früh aufzustehen? In dieser Noth ging sie zu Tante Anna und erzählte ihr Alles. Tante Anna küßte sie und sagte freundlich:Mein liebes Gretchen, Du wirst, dessen bin ich gewiß, einst Emma's volle Liebe besitzen, und Du verdienst sie auch. Sie wird den rechten Weg wiederfinden und ihr Betragen sehr bereuen. Ist sie denn noch nicht anders gegen Dich?"

Gretchen wußte nicht recht, ob sie ja oder nein sagen sollte, manchmal kam es ihr vor, als ob Emma sie nicht mehr so feindselig ansähe, aber sie hatte noch kein Wort mit ihr gesprochen.

In der Handarbeitsstunde nahm Emma ihre Stickerei vor und er­staunte nicht wenig, als sie dieselbe so weit gefördert fand. Sie warf einen raschen Blick auf Gretchen, welche verwirrt die Augen niederschlug, und eine tiefe Nöthe überzog ihr Gesicht. Sie sagte kein Wort darüber, aber Gretchen bemerkte eine tiefe Bewegung in ihren Zügen, ja es schien ihr, als ob sie Mühe hatte, ihre Thränen zu verbergen. Es hat sie ge­kränkt! dachte Gretchen zaghaft, aber nein, das konnte doch nicht der Fall sein, denn sie erhielt heute keinen einzigen der feindseligen Blicke, mit denen Emma sie sonst zu betrüben pflegte, und wenn Gretchen sie zufällig ansah, wechselte Emma immer von Neuem die Farbe. Gretchen bekam Lust, noch einmal eine Versöhnung zu versuchen. Aber da regten sich auch andere Gedanken in ihr:Wenn Emma mich nun wieder abweist? Ich habe ihr ja nichts gethan, sie soll ja zu mir kommen u. s. w." Was soll ich thun? fragte Gretchen sich immer wieder. Da trat plötzlich ihres seligen Vaters Bild recht lebendig vor ihre Seele, er hatte in solchen Fällen einfach zu ihr gesagt: Meine Tochter, frage Dich einmal, was christlich ist. Es war ihr, als hörte sie auch jetzt diese Frage aus seinem Munde, und ihr eigenes Herz gab die Antwort: Christlich handeln heißt in der Liebe und in der Demuth wandeln.Gott widersteht den Hof- fährtigen, aber den Demüthigen giebt er Gnade," dachte Gretchen und ihr Entschluß war gefaßt. Am nächsten Tage hatte Emma Klavierstunde im Saal. Kurz vor dem Schluß derselben ging Gretchen in die Klavier-