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und wenn an einer Stelle die Wurzel abstarb und die Zweige verwelkten, keimte an einer andern eine neue Ranke hervor und schlang sich um die verfallenden Mauern herum. Ich weiß also nicht, wie lange die erste Wurzel meiner Pflanze in diesem Boden gelebt hat, ich bin nur ein Zweig davon und habe mich von der äußeren Mauer der Ruine hinweg- gewendet, um durch ein zerbrochenes Fensterkreuz hineinzuwachsen und mich an der innern Wand des Zimmers hinzuziehen, in welchem die schöne Schloßherrin einst gewohnt hatte. Hätte ich Augen gehabt wie ein Mensch, so würde ich wohl mit Interesse die halbzerstörten Wände betrachtet haben, an denen noch einige vernachlässigte und wie es schien, vergessene Bilder hingen. Die Leinwand, auf welche sie gemalt waren, hing an einigen Stellen in Fetzen herunter, nur die Oelfarbe hatte sie noch zusammen­gehalten, und so waren noch Ueberreste von den Gesichtern zu sehen, welche auf ihnen dargestellt waren. Gerade gegenüber dem Fenster, wo ich hinein­gewachsen war, hing das beste von den Bildern, das Gesicht war noH ziemlich deutlich zu erkennen, und wenn die Sonne hineinschien, beleuchtete sie die feinen, bleichen Züge einer Rittersfrau, welche mit ihren sanften, blauen Augen hinabzusehen schien auf die Zerstörung, die sie umgab. Gern hätte ich mich zu ihr hingezogen, um einen frischen Blätterrahmen zu bilden um das jugendliche einst liebliche Gesicht; aber ich hätte noch viele Jahre wachsen müssen, um mich so weit auszudehnen und sie um­ranken zu können. Es mochte sich in dem Schlöffe vor Zeiten wohl Vieles zugetragen haben, was des Erzählens werth gewesen wäre, und es wurde auch viel davon erzählt, nur kann ich es nicht Alles wieder berichten. Unter dem Fenster, wo ich mich hinrankte, stand eine steinerne Bank, auf welcher die Spaziergänger und Reisenden auszuruhen pflegten, welche kamen um die Ruine zu besichtigen und die Aussicht zu bewundern. Oft sprachen diese Personen unter einander von früheren Zeiten und von den Rittern, welche hier gelebt hatten. Der letzte von diesen hatte sich gegen seinen rechtmäßigen Herrn und Fürsten aufgelehnt, verwickelte sich in eine Fehde, verschanzte sich auf seinem Schlosse, wurde daselbst belagert und wurde zuletzt, weil die Uebermacht der fürstlichen Streiter, die gegen ihn kämpften, zu groß war und er besiegt wurde, als Gefangener fort­geführt. Später verschmachtete er im Kerker. Seine Gemahlin, welche stets hoffte ihn wiederkehren zu sehen, war oft auf den Thurm des Schlosses gestiegen und hatte hinabgeblickt in's Thal, in der Erwartung, ihren heimkehrenden Gatten erspähen zu können, aber er kam nicht wieder

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