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das Letztere entschieden. Andauernde Krankheit des Mannes oder sonstige Brodlosig- keit desselben bringen die Proletarierfrau, welche nicht selbst erwerben kann oder will, entsetzlich leicht in die ärgste Noth und zum Betteln.

Thatsächlich sind nur wenige Frauen harter Arbeit entbunden, die meisten ar­beiten trotz geringen Lohnes über ihre Kräfte. Die Tochter des hohen Beamten oder Militärs, wie die Tochter des Taglöhners suchen jede nach ihrem Bildungsgrade Stellen ausser dem Hause, nicht aus Tändelei, sondern weil's sein muss. Was würde z. B. die einzigen Töchter reicher F'abriks- und Kaufherren hindern, sich dem Sport hinzugeben, sich zu Industriellen und Kaufleuten auszubilden, wäre es nicht der Wunsch, im Elternhause dem Hause des Gatten entgegen zu reifen, der Wunsch, den Beruf der Gattin und Mutter dereinst zu erfüllen? Es ist dies ein herrlicher Beruf! Selten kommt einer diesem gleich an Wichtigkeit und innerer Befriedigung. Wie wenig Männern wird überhaupt das Glück, einem Beruf leben zu können!

Erwerben! Auch der Mann widmet dem Erwerb meist seine Kräfte unter der zwingenden Subsistenzfrage. Nur wenige unter den Vielen haben es nicht nöthig; diese sind dann entweder passionirte Geschäftsleute und Beamte, oder Menschen, die überhaupt nach Zeitvertreib verlangen, oder geschickte Mehrer des Besitzes, oder solche, welche die öffentliche Meinung scheuen, der gemeinhin nur die geldeinbrin- gende Arbeit als rechte Arbeit gilt, wie überhaupt in bürgerlichen Kreisen eine sehr widerspruchsvolle Meinung über den Gelderwerb herrscht. Während der Mann, wenn er Geld nicht erwirbt, an Ansehen verliert, büsst die Frau an gesellschaftlicher Stel­lung ein, sobald sie um Geld arbeitet. Die Logik ist nicht einzusehen. Da ist der Engländer folgerichtiger in seiner Definition der Lady und des Gentleman, wenn uns auch seine Ansicht verkehrt eftcheint, dass Gelderwerb und Gentleman sich aus- schliessen. Es kann diese Anschauung nur darauf fussen, dass der Gelderwerb in der That häufig eine Handlungsweise erheischt, welche bei aller Ehrenhaftigkeit doch mit den Ueberzeugungen des Handelnden nicht völlig übereinstimmt. Dies mag dem Engländer vorschweben, und was den Werth seines Gentlemans gewiss vollends be­gründet, ist: dass derselbe seine aussergeschäftliche Stellung sehr häufig zu strenger wissenschaftlicher, literarischer, politischer oder philantropischer Arbeit nützt. Sein Leben ist frei von dem lähmenden Druck, der dem Dichter (Sauter) die folgende Strophe erpresste:

»Aber Eins bedenke Jeder,

Was er immer thut und treibt,

Ob mit Hammer oder Feder Brod er schmiedet oder schreibt,

Dass die Mühe des Erwerbens Ihm sein Bestes untergräbt,

Und am Tage seines Sterbens Niemand weiss, dass er gelebt.«

Wie viele Männer mögen dem Dichter beistimmen; aber trotzdem hämmern und schreiben sie fleissig um Brod; und wohl ihnen, denn verhungernd könnten sie ihr Bestes auch nicht vor dem Untergange retten. Ganz so steht es mit den Frauen. Die ideale Auffassung ihres eigensten Berufes soll ihnen der Leitstern hleiben, aber sie können und dürfen im Anblick des strahlenden Gestirnes den Boden nicht ver­gessen, an dem sie haften. Die Männer, welche unsere Kräfte nur für den Brennpunkt in der Familie aufsparen, möchten übersehen, dass die nöthige Grundlage dazu fehlt;