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Wenn ich jetzt, wo ich zuletzt öffentlich zu Ihnen spreche, von Ihnen scheide, so wird mir dies schwer; denn gern weilte ich unter Ihnen, mit Vergnügen betrat ich Ihre Classe, weil ich wusste, dass Sie Freude an geistiger Arbeit hatten und mit Lust und Liebe den Gedanken folgten, die ich in Ihnen weckte. Und mit mir haben auch die übrigen Herren Professoren, die an Ihrer Ausbildung arbeiteten, den Unterricht in Ihrer Classe geliebt und Ihr reges geistiges Interesse anerkannt. In aller Namen drücke ich Ihnen den Wunsch aus, dass Ihnen die zunächst bevorstehende Prüfung gelingen, und dass Sie an der Universität Erfolge erzielen und dadurch beweisen mögen, dass die Frauen an geistiger Bildung den Männern gleichwertig seien. Nicht ohne Wehmuth begleiten Sie meine Wünsche für die Zukunft. Ich will nicht die harten Worte der heil. Schrift gebrauchen, deren sich der Heiland gegenüber seinen Jüngern bediente, indem er sagte, er sende sie wie die Schafe unter die Wölfe. Aber Sie müssen sich gefasst machen, nicht sonderlichem Entgegenkommen zu begegnen, denn jede Neuerung hat Feinde. Es sind dies die beati possidentes, die alle Mittel anzuwenden suchen, um ihren Besitz zu behaupten. Und wenn unter denen für Sie massgebenden Factoren eben solche Feinde Ihrer Bestrebungen sind, so ist es begreiflich, welche Schwierigkeiten sich Ihnen entgegenstellen werden. Für diese Kämpfe, die Sie zu bestehen haben, stählen Sie Ihre Kräfte durch geistige Arbeit und strenge Gewissenhaftigkeit. Das sind die Waffen, mit denen Sie im Kampfe ums Dasein ausgerüstet, sich behaupten und den Sieg erringen werden.

Mit denselben Forderungen wende ich mich an Sie, die übrigen Schülerinnen dieser Anstalt. Mit gutem Grund darf ich Ihnen die Abi­turientinnen als Vorbild aufstellen, denen Sie in Bezug auf Fleiss und Eifer, auf Bescheidenheit und Gehorsam nachstreben sollen. Der Weg, den diese gegangen und der zum Ziele geführt hat, wird auch Sie zum Ziele führen, und die Erfahrungen, die wir durch sechs Jahre gemacht haben, sprechen zugunsten des eingeschlagenen Weges. Halten Sie sich an ihn, und folgen Sie vertrauensvoll der Führung Ihrer Professoren. Dieser Weg fordert von Ihnen nicht geringe geistige und physische An­strengungen, diese müssen Sie aber aufwenden, um zum Ziele zu gelangen.

Chi va lontano va sano, wer langsam geht, befindet sich wohl und geht sicher. Überstürzen Sie nicht Ihre Bildung in ungestümen Vorwärstdrängen; es geht dies auf Kosten der Gesundheit und Gründ­lichkeit. Im Gegensätze zu dem hie und da auftauchenden Cursen, die treibhausartig gewissermassen per Dampf die Kenntnisse zur Maturitäts­prüfung vermitteln, hat unsere Schule einen Lehrgang vorgezeichnet, der ohne geistige Überlastung das Ziel erreicht, und der auch Zeit zur Ver­arbeitung des gewiss sehr beträchtlichen Stoffes liefert. Die durch sie gesetzten Ziele sind hoch genug, aber sie sind des Schweisses der Edlen wert, am Schlüsse wird Ihnen der Zutritt zu der Hochschule und die Mitarbeit an den Berufen, die man zu den höchsten zählt, eröffnet. Und wenn auch nicht alle unter Ihnen nach diesen Zielen streben, denn Viele sind berufen, doch wenige auserwählt, so nehmen Sie doch an dieser