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Charlotte Wolter sind so unbegreiflich typisch für die Frau aus der Kolchida, dass jeder Kaukasier für den ersten Moment eine seiner Verwandten oder Bekannten zu sehen wähnen kann.

So sind sie! Die Frauen in Gurien und Mingrelien, draussen, die friedlich Maisbrot backen und Büffelkühe melken; so sehen sie aus die Mütter und Gattinnen tapferer, freiheitsliebender Männer; die grossen Märtyrinnen der Geschichte einer Geschichte von mehr als 30 Jahrhunderten. Die Zeiten sind wohl vorbei, da sie die steilen Berge hinaufgeklettert und Steine losgerissen haben, um sie in die tollen Schaaren der Perser oder Türken zu schleudern. Heute schleppen sie nicht mehr mit tollkühner Freude und wahnsinnigem Schmerz zugleich die verwundeten, blutenden Körper ihrer Kämpfer zum Aul (im georgischen: das Dorf). Die Kämpfe sind ausgekämpft; das Land gesättigt mit Blut, aber die Frau fühlt noch immer das Bedürfnis, zu opfern und zu siegen. Und ihr ehemaliger Sieg war kein leichter, kein billiger; der heutige ist ein noch schwererer.

Zur Zeit der Regierung des georgischen Königs Wachtang Gorgoslan (d. h. des eisernen Löwen) im V. Jahrhunderte, versuchten die Georgier auf dem Suramer Bergwalle, einer Gebirgskette, die das Land in zwei Hälften theilt, eine starke Festung zu errichten, die ihnen Zuflucht und Sicherheit gewährte, gegen die be­ständigen Einfälle der Perser und Lesgier (ein mohamedanischer asiatischer Stamm). Alles Volk strömte zusammen, alles half an dem Baue und nach Monaten war die Festung fertig.

Der König wollte sie besichtigen. Doch plötzlich kam die schreckliche Kunde: Die Festung sei eingestürzt. Bestürzt uud betrübt vernahm sie der König. Was sollte das bedeuten ? Doch das Volk liess ihm nicht Zeit zu grübeln. Vom neuem schafften willige Hände an dem misslungenen Baue und wieder stand er fertig da. l 1 ,^ Meter dicke Mauern ragten hoch empor, ein Riesenwerk, das von aussen von einem breiten, wassergefüllten Graben getrennt wurde; wer die Festung erreichen wollte, musste erst den Graben überschwimmen. Der König und sein Staat begaben sich dahin, um das Werk zu bewundern. Jedoch, o Schrecken! Zum zweitenmale sank das Mauer­werk in Trümmer vor den Augen des Herrschers und begrub den Liebling des Königs, den Architekten Peter Jani.

Mit vom Schmerze zerrissener Seele kehrte der König in sein Schloss zurück. »Ich habe wohl gesündigt gegen den Herrn und das ist meine Strafe,« so dachte verzweifelt der Herrscher. In dieses Grübeln versunken, traf den König der alte weise Arab Megdi-Saib. Er vernahm die Klage des Königs und begab sich in die Festung, von der im Volke sich schon die schauerlichsten Legenden verbreitet hatten. Dort verbrachte er die Nacht.

Am Morgen kam er zum Könige zurück. »Mir offenbarte Gott das grosse Räthsel, das über dieser Festung schwebt. Dieselbe wird nur dann sich fest und ganz erhalten, wenn aus der Mitte deines Volkes sich eine Mutter findet, die ihren ein­zigen Sohn zu opfern bereit ist. Dieser muss in die Grundmauer lebend eingemauert werden.« Dann, .o grosser König, unbezwingbar und ewig bleibt sie, diese Festung!

Der Alte gieng. Der König rief sein Volk zusammen. In weiter Ferne wogt und drängt sich Kopf an Kopf. »Meine Lieben«, so sprach der König, »der weise Arab Megdi-Saib verrieth mir das Geheimnis, durch welches unsere Festung unbestürmbar und unzerstörbar werde. Doch wird es mir schwer, es Euch mitzutheilen. Eine Mutter müsse ihr einzig Kind, ihren Sohn opfern, ihn in die Mauern lebend vergraben