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Wie oft habe ich noch später Sir Vardrop und viele Fremde mit ihm, Ser­vietten schlucken gesehen in der heiteren, gastfreundlichen Gesellschaft der Georgier und nie hat man etwas unverdaulich gefunden, was der reiche georgische Tisch angeboten.

Die georgischen Mädchen schickt man meist in die Klosterschule der hl. Nina in Mzehet ausser Tiflis, viele jedoch besuchen die russischen Mädchengymnasien. In kurzer Zeit wird das auf die Initiative der Frau Fürstin Orbeliani ins Leben ge­rufene adelige, georgische Mädchengymnasium eröffnet und mit dieser neuen Ara für weibliche Fortbildung in Georgien öffnet sich auch eine neue Aussicht, die fast in orientalischer Abgeschiedenheit von Literatur und frischem Ideendrange nach geistiger Freiheit lebende georgische Frau der abendländischen, fortschrittlichen näher zu bringen. Das tief veranlagte Gemüth, die leichte Auffassungskraft und ein gewisser Ernst in allem, werden es der Georgierin leicht machen, gewisse Ubergangsstadien auszulassen und sie gleich der russischen Frau, die aus der ersten Epoche sofort in die vorgeschrittenste hinübertrat, aus ihrem einfachen, begrenzten Familienleben in ein allgemein nützliches hinüberleiten. Die Georgierin wird sich nicht zersplittern, ihr fehlen alle Anlagen hiezu; sie ist nicht entnervt von vornherein, hat keine Halb­fragen an das Leben und keine zerstückelten Wünsche für die Zukunft. Sie wird wollen und unbekümmert um alles übrige zum Ziele gehen, alle ihre solange nieder­gehaltene Seelenkraft und Leidenschaftlichkeit in das Pionierthum für sociale Gleich­berechtigung und Gleichleistung mit dem Manne verlegen. Ich kenne eine Menge junger georgischer Mädchen, noch Schülerinnen, den verschiedensten Kreisen ent­stammend, die ganz klar jetzt schon sich von der allen Sitten, »ein von der Familie genährtes, nur zur Ehe bestimmtes Wesen zu bleiben« lossagen und sich social selbständig zu machen versuchen. Die Schule selbst, Post-, Telegraph- und Telephon­ämter, die Eisenbahn, Bank- und Privat-Comptoir, alle öffnen zu diesem Zwecke bereitwillig ihre Thüren für die Frau. Jedenfalls geschieht dies, dank dem wohlthätigen russischen Einflüsse, der in der Frauenfrage das humanste und weitgehendste leistet und dem sich unwillkürlich alle Sympathien der heranwachsenden Generationen im Süden dankbar zuwenden werden. Und mit der Abendländerin, die über alte Sitten und Gesetze zürnend hinwegsetzt und einen Kampf begonnen, an den sie alles wagt und opfern will, weil sein Ausgang ein günstiger und befriedigender sein muss, gleich ihr und mit ihr wird die Georgierin begeistert nach vorwärts eilen.

Das der Schule entwachsene junge Mädchen in Georgien, mit der traditionellen Träumerei im Blute, temperamentvoll und leidenschaftlich im Wünschen und Hoffen, hatte bisher nur einen Weg zu gehen, den der Liebe! Und auch dieser Gang, der im Abendland die zagende Unschuld durch eine Menge schüchterner Pfade und Um­wege zur grossen Lösung ihres Daseinszweckes lockt, ist der Georgierin durch uralte Sitte verkürzt.

Noch in der letzten Zeit waren Entführungsprocesse eine alltägliche Begeben­heit und regten das Publicum durchaus nicht besonders auf. Die Sitte von ehemals, jetzt festgenagelt im Strafprocessbuch, verlor allerdings den romantischen und sym­pathischen Impuls: jedoch draussen in der Provinz, in Gurien, Mingrelien, Imeretien, besonders aber in den Bergen holt sich der kühne Anbeter seine Erkorene dennoch