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die zügelloseste Üppigkeit in Feld und Flur, die schwindelnde Höhe seiner Berge und die überschäumende Leidenschaft seiner Waldströme, das Gepräge ihres Tem­peramentes gaben ; wo beginnt hier die Liebe, wo endet sie ?

Sie schweigt nur in Gefahr fürs Vaterland. Die grossen Königinnen der Vor­zeit waren immer bereit, ihr Herz zu zertreten, wenn es galt, Alle zu lieben und zu. schonen und »Einen« dafür zu vergessen. Sie schnitten ihr Haar ab und giengen barfuss zum Sion (der ältesten Kathedrale, deren Bau im IV. Jahrhundert begonnen wurde) und von dort verkündeten sie ihre Befehle an das Heer. So die weise Königin Tamara aus dem XIII. Jahrhundert, die Förderin der Kunst, Architektur, der Wissen­schaft und des Friedens, die schönste Frau ihrer Zeit; sie war das Vorbild einer grossen Herrscherin, aber sie war keine glückliche Frau!

Die Legende, wie die Geschichte schildern Tamara in den begeistertsten Aus­drücken. Viele Königssöhne aus dem Perserreiche warben um ihre Hand, jedoch vergebens.

Der Sohn des osetischen Königs entbrannte in so wilder Leidenschaft zu der schönen Königin, dass er, heimkehrend, erkrankte an Sehnsucht nach ihr und starb. Ebenso verliebte sich der Sohn des bisantischen Kaisers Manuel, ferner der Sohn des Sultans Küsil-Aslan und Mutafradin, der Enkel des Salduka. Jeder, der in die Nähe der blendend schönen Tamara kam, wurde von ihrer Würde und Zurückhaltung so tief gerührt und beschämt, dass er sich mit zerrissenem Herzen entfernte. Tamaras Sinne waren aber auf das Höhere, Sittliche, auf Bildung und allgemeines Wohl ge­richtet. Sie hiess ihr Herz schweigen und sogar wilde Thiere empfanden die Macht ihres Wesens. Man erzählt von einem grossen, prächtigen Löwen, den man Tamara als Geschenk gebracht hatte, dass er vor sie geführt, plötzlich stutzte, dann seinen Kopf an ihre Knie legte und ihre Hände liebkoste und als man ihn an starken Ketten fortziehen wollte, so wiedersetzte er sich heftig; Thränen stürzten aus seinen Augen, das wilde Thier war bezwungen. Schota Rustawali, der grosse Poet und Sänger, der Dichter der »Tigerhaut«, beschreibt in diesem Poem in der Gestalt des Nestan Daredschan die grosse Königin, die er wahnsinnig geliebt hatte und von der er nie Erhörung hoffend, endlich fortzog nach Jerusalem, wo er Mönch wurde, und im Kloster des hl. Kreuzes starb.

»Sie ist mein Leben«, ruft er im Gedichte aus, »aber sie ist unerbittlich wie ein Diph (Gott). Ich verliere den Verstand und sterbe aus Liebe zu der, welcher gehorsam sind alle Legionen und Heere! Ich erkrankte an Liebe und für mich gibt es keine Heilung als die ewige Ruhe-im Grabe, die mein Herz austrocknen soll.«

Sie sehen, auch der Kaukasus hatte seinen Ritter Toggenburg.

Neben Tamara glänzen aber noch viele bedeutende Frauennamen, Herrscherinnen und Fürstinnen, derer Heroismus nicht selten den der Medea überstieg, und derer Thatkraft, Geistesgegenwart und Einfluss dem Geschichtsschreiber aus dem trockenen Tone des Aufzählens von Thatsachen in jenen eines begeisterten Erstaunens ver­fallen lässt; die Legende, das Volkslied, Sage und Dichtung haben Rusudana, Dare- dschana, Maria, Johanna, die Dadianis und Fürstinnen Eristoff und Dadeschkiliani unsterblich herübergeleitet in die grosse Umsturzwelle der Neuzeit und der Glanz und Nimbus ihrer Namen leuchtet unverändert über der Geschichte Georgiens.

Der Brauch und die Sitte erfordern es sogar noch bis in die heutigen Tage, dass bei grossen Volkszusammenkünften und allgemeinen Festlichkeiten die Frauen getrennt von den Männern sich verhalten; man lagert im Freien in riesigen Gruppen