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und nur der patriotische Trinkspruch und das angestimmte Lied sind die Brücke zwischen den einzelnen Schaaren. In der höheren Gesellschaft ist die Frau nicht mehr diesem Zwange unterworfen. 'In den Sitzungen, bei Banketten und öffentlichen Be­lustigungen räumt man den Damen jetzt den ersten Platz gerne ein. Ich hörte die gewagtesten Playdoyers aus Frauenmunde während einer gefährlichen, tumultarischen Versammlung, in der der Parteihass jede Schranke zu übergehen drohte, die feste Stimme einer Frau zwang zur Ruhe, die Dolche wurden zurückgelegt und die ein­fache gediegene Rede einer sehr klugen Frau genügte, um ein Wirrsal von Begriffen und Meinungen in eine gemeinschaftliche Bahn zu lenken.

Ritterlichkeit und aufrichtige Verehrung bürgen der Georgierin für Schonung ihrer Sonderstellung in der Zukunft. Sie wird in ihren Forderungen vielleicht natür. liehen Widerstand begegnen, aber nie ein hämisches Achselzucken oder eine gering­schätzige Ignoranz für ihre Bemühungen ernten.

Was man von der europäischen Fortschrittsfrau da unten im Süden erfährt, wird einer eingehenden Kritik unterworfen und wenn auch bei den Frauen selbst, viele Neuerungen noch Zweifel und Unbehagen hervorrufen, so ist dies nicht ein Mangel an Verständnis oder Streben, sondern der Nachklang noch sehr tief eingewurzelter Vorurtheile in Beziehung auf Würde und Frauenstolz. Die Georgierin mag unnahbar erscheinen, wo sie nur zurückhaltend ist, hochmüthig, wo sie einfach würdevoll sein will. Ziererei, kleinliches Formenwesen kennt man dort nicht.

Eines möchte ich nur zum Nachtheil der Georgierin erwähnen, das ist ihre schwach veranlagte Selbstcontrole. Sie hat gar nicht das Bedürfnis, an sich und ihren Handlungen Kritik zu üben. Sie war solange das gefügige Instrument für den Mann, an dem es genügte, eine Saite mit Liebe anzuschlagen, um eine Menge anderer mit zittern zu machen, dass es ihr heute sogar an Willen und Muth fehlt, eine Initiative aus sich heraus zu entfalten und die daranschliessenden logischen Folgerungen und Nebensachen zu beurtheilen.

Daran ist wohl auch der fast durchwegs herrschende Fatalismus des Orientalen schuld. »Kismet« sagt auch der gelehrte Denker dort im Süden, und er findet Be­friedigung in diesem Wort.

Bei den Bergstämmen z. B. herrschen wirklich noch ganz rohe Sitten betreffs der Frau, eine Zurücksetzung nicht nur ihrer Seelenfähigkeiten, sondern überhaupt ihrer Weiblichkeit, und nun dächte man, dass bei so grausamen Verhältnissen aus diesen Frauen ganz wilde und verscheuchte Wesen werden sollten! Doch nein. Hier sorgt die mächtige Natur, der beständige Contact mit ihr für die Veredlung der Seele des bedrängten Weibes und eine beispiellose Fülle von Heroismus und Seelenfreiheit eben bei diesen Frauen setzen so manchen Europäer in Erstaunen! Der Instinct der Bergbewohnerinnen ist ein sinnlich- und sittlich-reinerer als aller anderen, ihr ganzes Wissen sind ein paar Legenden und die Bibel, ein paar Strophen eines Volksliedes, aber ihr Herz ist der Sammelpunkt aller vorelterlichen grossen Gefühle, von denen sie nun beherrscht wird, ohne sich Rechenschaft geben zu können, mit denen sie handelt, ohne sie von der Vernunft leiten zu lassen, aber das Allgemeinleben der georgischen Frau jetzt nach der Epoche der Freiheitskämpfe ist kein episodisches mehr, es ist ein langes Athemholen zu vielleicht sehr grossen und wichtigen Um­gestaltungen in der verzauberten, träumenden Atmosphäre.

Literatur und Poesie, im Drama und im Romane, überall geht die Frau bei den Georgiern als lichter Streifendurch alle Zeiten und alle Ereignisse.