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Am häufigsten führt sie der Mann vor das Dillemma der Liebe zur Familie, zum Gesetze und Brauch und zum Erwählten. Und immer wählt die Georgierin das von Vornherein verfehmte Glück, sie wird erst Weib und dann sühnt sie, mitten im Taumel abbrechend, ihr Vergehen vor den Eltern oder vor der Heimat mit einer grossen, selbstlosen Aufopferung; sie bringt z. B. mit Lebensgefahr Feilen und Waffen ins Gefängnis, wo ihre Brüder und Landsleute schmachten, sie überrascht nachts das feindliche Lager und stiehlt die Schlüssel zur Festung, hinter der Stammes­brüder gefangen, wehrlos verzweifeln, sie wirft die brennende Fackel in das feindliche Zelt, sie erscheint zu Pferde als Mann verkleidet, entreisst die Fahne dem zaudernden Träger und stürzt mit fanatischer Tollkühnheit voran in das Gefecht; im ruhigsten Verlaufe ihrer Geschichte stirbt sie an einer Dolchwunde, die sie sich selbst im An­falle von Reue und Gewissensbissen beibringt.

Im Lied wie in der Prosa verherrlicht sie der Mann, überall zerreisst er jeden Schatten vor ihrer Seele mit kundiger und zärtlicher Hand; sie geht verklärt hervor aus allen Wirren ihres Seelenlebens und ihrer Leidenschaften, sie begeistert ihn und ermuthigt ihn; wohl schreibt kein Georgier mit Heine: »Des Weibes Leib ist ein Gedicht.« Es singt doch der Volkspoet:

Stolz wie ein Herrscher, erhebe ich das Haupt

Und höher als alle diink ich mich dann

Die ganze Welt zu besiegen, gibt das Glück mir Kraft,

Dass ich an Deine Liebe glauben kann.

Und Rafael Eristoff singt:

Wozu der Spiegel, liebe Kleine?

Du w r eisst es ja, dass schön Du bist.

Das kalte Glas, es strahlt nicht wieder Den Reiz, der mir so theuer ist.

Wenn aber Du Diel) sehen wolltest,- So blick ins tiefste Herz mir nur,

Dort spiegelt sich in vollem Glanze Dein Bild mit seiner Zauberspur.

Ich erlaube mir, Sie, geehrte Anwesende, auf das Mangelhafte dieser aus dem Stegreif gewagten Übersetzung aufmerksam zu machen; in georgischer Sprache klingen diese Strophen in einer unnachahmlichen Lieblichkeit.

Ein Zug in der Poesie der Georgier ist auffallend: Der Dichter weint, schluchzt, fleht, droht, wirbt und schmeichelt um die Frau, aber in jeder Strophe, in jedem Worte fühlt man, dass mit dem grossen Bilde der Angesungenen die erste Frau im Leben des Georgiers gemeint ist, die, für welche er ohne Unterlass Jahrhunderte lang vom Ahnen herauf kämpfte und starb, die Heissgeliebte, Ideale, Beste und Ewige, »Die Heimat.« Deshalb keine einzige, sinnliche Note in der ganzen Poesie. Eine entzückende, harmlose Reinheit und Fülle von Empfindung überströmt die Gedanken­ausbrüche der Sänger, die frische, durchsichtige Atmosphäre der hohen, finster brütenden Berge seines Landes weht schaurig reinigend und kräftig durch sein Minne­lied, die grosse, noch nicht ausgeblutete Wunde an seinem historischen Bestehen klafft auf und heisse, dünne, rothe Wellen rieseln durch die Zärtlichkeiten und Seufzer, mit denen der Poet »die Heimat« begrüsst.

Aber es gibt keine heissenden Sprichwörter und höhnischen Anspielungen an Fehler und Frauenschwächen, man schwört mit dem Namen »der Mutter« und man tödtet ohne zu zaudern für die kleinste, unzarte Bemerkung über eine Frau, ob sie nun verwandt oder ganz fremd ist.