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sich allmählich Einzelnen gesenüber ein angenehmes kameradschaftliches Ver- hältniss ans. Der Schweizer ist infolge seines Mangels an chevalereskem Wesen eher befähigt, als z. B. der Oesterreicher oder Deutsche, Kamerad einer Frau zu sein, und ich glaube, dass die Studentin gut thut, dieses Verhältniss von vornherein anzustreben. Sie soll stets als Frau, nicht aber als Dame im Sinne des Salons, d. h. mit bestimmten, vorgefassten Ansprüchen an die Ritterlich­keit ihrer Studiengenossen auftreten. Nur so wird sie niemals Gefahr laufen sich in ihrer Würde verletzt zu sehen. Um dies mit Consequenz zu können, bedarf sie neben dem angeborenen Takt einer gewissen gesellschaftlichen Sicherheit, die sie vorher im Elternhause erworben haben muss, und ich halte es deshalb, wenigstens für die deutschen Mädchen, in Anbetracht unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, nicht für gut, wenn sie vor dem 20. Jahre die Universität beziehen. Natürlich spreche ich ganz im Allgemeinen; denn gerade ich habe in meinem engeren Freundeskreise eine glänzende Ausnahme dieser Regel zu verzeichnen.

Der kameradschaftliche Geist, der durch die gemeinsame praktische Arbeit in den Laboratorien angefacht wird, findet eine Förderung durch die im Sommersemester unter der Leitung des betreffenden Professors unternom­menen gemeinsamen wissenschaftlichen Excursionen, da sie Müsse genug zum Gedankenaustausch bieten. Meine Damen und Herren, ich bin viel zu sehr Medicinerin, um mich der physiologischen und somit auch der psychologischen Differenz zwischen den beiden Geschlechtern zu verschliessen. Ich vermag nur nicht die tagesübliche Consequenz, nämlich dass der Mann die Logik und somit die Wissenschaft gepachtet habe, die Frau dagegen mit dem fürlieb nehmen müsse, was von des Mannes Tische abfällt, daraus zu ziehen. Im Gegentheil, ich folgere, dass wegen der gewissen Verschiedenheit, die beiläufig nicht entfernt so gross ist, als man sie hinzustellen beliebt, man auch der Frau im Interesse von Wissenschaft und Kunst volle Berufsfreiheit gewähren soll. Mann und Frau werden die gleichen Probleme von verschiedenen Stand­punkten aus in Angriff nehmen und somit einer schnelleren, umfassenderen Lösung entgegen führen. Ich habe Gelegenheit gehabt, Zeuge zu sein von der gegenseitig fördernden Wirkung eines ungezwungenen freundschaftlichen Ver­kehrs zwischen wissenschaftlich gebildeten Männern und Frauen, und ich selbst blicke auch von diesem Gesichtspunkte aus auf die Züricher Zeit mit grosser innerer Befriedigung zurück, in der Ueberzeugung, im Verkehr mit Studien­genossen nur nach jeder Richtung hin gewonnen zu haben.

Das medicinische Studium zerfällt, wie ihnen zumeist bekannt sein dürfte, in zwei grosse Abschnitte, den naturwissenschaftlichen und den eigent­lichen medicinischen, gewöhnlich schlechtweg klinischen Theil genannt. Nicht das Examen zum Schlüsse des ersten Theiles ist es allein, welches den Mark­stein setzt, sondern thatsächlich beginnt mit dem Eintritt in die Klinik spe- ciell für die Studentin eine neue Phase ihrer akademischen Laufbahn. Da den klinischen Fächern meist mehr Zeit als den naturwissenschaftlichen gewidmet wird, so stösst die Neueintretende auf manches unbekannte Gesicht älterer Collegen; sie muss noch einmal sozusagen Revue passiren. Wie sie im Be­ginne ihrer Studien zum erstenmale gemeinsam mit dem Manne an der Leiche