In sofern die Eigenart der weiblichen Natur eine größere Empfäng­lichkeit für Eindrücke offenbart, nimmt dieselbe auch leichter etwas in das Gedächtniß auf, jedoch ist dasselbe weniger treu, da das dem­selben Ueberlieferte, der schwächeren Reaction wegen, weniger assi- milirt ist. Wegen der größeren Regsamkeit hat das Weib viel Phan­tasie, aber dem Producte derselben fehlt die Kühnheit. Aus diesem Grunde ist das weibliche Urtheil schnell, dringt jedoch verhältniß- mäßig weniger in die Tiefe; weshalb das Weib einen guten und klaren Verstand besitzen kann, ohne zu abstrakten Forschungen geeignet und geneigt zu sein.^)

Mit Rücksicht auf die Erkenntnißweise darf als feststehend gelten, daß sich die weibliche Natur, in Bezug auf das Object, an das Factische hält. Sie sieht Alles im Ganzen, sie denkt konkret. Das Auseinanderhalten verschiedener Begriffsgebiete wird ihr ungemein schwer. Daher findet auch der oft gehörte Vorwurf, daß Dichter­werke auf Frauen fast nur stofflich wirken, hierin seine Begründung. Wie leicht in dem weiblichen Urtheile die Rechtsverhältnisse mit der Moralität der Betheiligten zusammenfließen, darf als bekannte That­sache gelten. Am Richtigsten wird man die weibliche Erkenntnißform alsAnschauung" bezeichnen können.

Der Mann ist von der Natur auf das Erkennen durch Zergliederung angewiesen; er neigt zur Abstraktion und bedarf ihrer. Das Unterordnen unter das Allgemeine ist bei ihm der Abschluß der geistigen Analysis und eben darum ein rein begriffliches, dem nur zu häufig die entsprechende Anschauung fehlt. In sofern kann die weibliche Anschauungsweise schon an und für sich, ohne besondere Begabung, nicht selten den Eindruck eines genialen Blickes^* **) ***) ) machen, während sie in anderen Fällen durch ihr naives Ueberspringen aller

*) Aus dem tieferen Gefühlsleben des Weibes erklärt es sich, daß die alten Deutschen den Frauen eine prophetische Kraft zuschrieben. Auch erkannten die Germanen, Griechen und Römer in dem Seelenleben ihrer Frauen ein wichtiges Element, das in ihrem eigenen wenigstens nicht in dem Grade vorhanden war.

**) R. Virchow:Ueber Erziehung des Weibes." Berlin 1865. Fr. Enslin.

***) Man muß in vielen Dingen dem Weibe einen feineren Blick, eine tiefere und schnellere Ahnung zugestehen. Leidenschaft unterdrückt und berückt weit öfter Kopf und Herz des Mannes, als das gelassenere, geduldigere Weib. ^