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Die Groß-Industrie Oesterreichs : Festgabe zum glorreichen fünfzigjährigen Regierungs-Jubiläum seiner Majestät des Kaisers Franz Josef I. dargebracht von den Industriellen Österreichs 1898 ; Vierter Band
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der Umfang der Textil-Industrie ein ungeheurer. Zunächst gehören zu ihr jene Reihe von Gross-Industrien, welche die Erzeugung der Fäden, das eigentliche Spinnen, besorgen und die nach der Art der ver­wendeten Rohstoffe als Baumwoll-, Baumwollabfall-, Leinen-, Werg-, Jute-, Streich- und Kamm­garn-, Kunstwoll-, Seiden-, Florett- und Bourrettespinnerei bezeichnet werden. An diese reihen sich jene Industrien, welche die Erzeugung von Geweben im weitesten Sinne des Wortes zum Zwecke haben, das sind: die Weberei-Industrie in ihrer ungeheuren Mannigfaltigkeit (nach der Art des Roh­stoffes einerseits und der Art des erzeugten Gewebes andererseits); ferner ihre bedeutend jüngere Schwester­industrie, die ihr an volkswirthschaftlicher Bedeutung zunächst steht, die Wirkerei; ferner die Erzeugung von Bändern und Borten, Geflechten und Schnüren: die Posamentir-Industrie; ferner die Bobbinnet- und Spitzenfabrication, die Herstellung von genetzten und geknüpften Waaren, die Umwandlung der in den genannten Industrien gewonnenen Producte zu wirklichen Gebrauchsartikeln durch die Näherei, sowie die Verzierung der Waarenflächen durch die Stickerei.

Die bisher namhaft gemachten Industrien haben grösstentheils einen mechanischen Arbeitsvorgang, während eine andere Gruppe textiler Industrien, welche die Veredelung der in ersteren erzeugten Fabrikate zu besorgen hat, sich grösstentheils chemischer Processe zur Erreichung ihrer Zwecke bedient. Diese letztere Gruppe umfasst die Bleicherei, Färberei, Druckerei und Appretur, und soll, da sie in vorliegendem Werke gleichfalls eine besondere Behandlung erfährt, an dieser Stelle nicht weiter betrachtet werden.

Wie schon erwähnt, waren die zum Spinnen verwendeten Vorrichtungen, so wie überall, auch in Oesterreich bis in die neueste Zeit äusserst primitiver Natur, denn sie bestanden einzig und allein in der durch die Finger der rechten Hand bewegten Handspindel, deren Erfindung unsere heidnischen Voreltern den Göttern zuschrieben, dem aus Indien stammenden Handrad und dem 1530 von Jürgens in Waten­büttel ersonnenen, mit der sogenannten Flügelspindel ausgerüsteten Trittrad, welch letzteres bereits Mitte des 16. Jahrhunderts in unserem Vaterlande Eingang fand. Diese Geräthschaften erlaubten es zwar, Fäden von grosser Feinheit herzustellen, jedoch gelang dies nur bei grösster Geschicklichkeit und konnte ein Arbeiter auch immer nur einen, höchstens zwei Fäden gleichzeitig spinnen.

Da aber auch das Weben mittelst des Handschützens sehr langsam vor sich ging, so war kein Bedürfniss nach mehr Fadenmaterial vorhanden, als die Spinner zu liefern vermochten. Diese Sachlage wurde jedoch mit einem Schlage anders, als John Kay im Jahre 1733 den Schnellschützen erfand, denn nun brauchten die Weber viel mehr Garn und der von Jahr zu Jahr steigende Bedarf nach solchem führte zu derartigen Misshelligkeiten, dass sich, während man bisher die Spinngeräthe als kaum ver­besserungsfähige, altehrwürdige Institutionen zu betrachten gewohnt war, nunmehr alle Bevölkerungskreise des britischen Inselreiches mit dem Gedanken einer Spinnvorrichtung von wesentlich erhöhter Leistungs­fähigkeit beschäftigten. Die Erfindung der Jenny-Maschine durch James Hargreaves 1764, welche gleichzeitig acht Fäden zu spinnen erlaubte, brach endlich den Bann, der auf der Spinnerei seit Jahr­tausenden zu lasten schien, denn ihr folgten in kurzer Frist 1769 die von Richard Arkwright ersonnene, auf dem Principe der Flügelspindel basirende, nach dem Antriebe durch Wasserkraft sogenannte Water­oder nach dem singenden Ton der Spindeln benannte Drosselmaschine, sowie 1774 die von Samuel Crompton erdachte Combination beider, die Mulemaschine. Die Erfindung dieser Maschinen war jedoch keine vereinzelte Thatsache, sondern gewissermassen nur der auf das Gebiet der Spinnerei fallende Abglanz des überaus regen geistigen Lebens, das sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts im drei­einigen Königreiche entwickelte. Gleichzeitig hatte ja auch James Watt in Birmingham die Dampfmaschine erfunden und diese wurde alsbald zum Antriebe der Spinnmaschinen herangezogen. Mule- und Water- maschine bilden die Ausgangspunkte für die zwei in der Gegenwart verwendeten Spinnmaschinensysteme; aus der ersteren ging durch eine Fülle geistreichster Verbesserungen, die eine Beeinflussung seitens des Arbeiters immer überflüssiger machten, der Selbstspinner oder Selfactor, aus letzterer nach Beseitigung des schweren Flügels und Ersatz desselben durch den auf einem Ringe laufenden Traveller die Ring­spinnmaschine hervor. Welche Vervielfältigung der menschlichen Arbeitsleistung durch diese Maschinen hervorgerufen wurde, mag die Thatsache illustriren, dass die Selfactoren, von welchen ein Spinner mit zwei Spinnjungen zwei zu bedienen vermag, 1000 bis 1400 Fäden von höchster Feinheit bei einer Um­drehungszahl der Spindeln von 10.000 bis 14.000 pro Minute gleichzeitig erzeugen können und dass die Ringspinnmaschinen die Leistung des Selfactors bei weit grösserer Einfachheit des Baues bei Erzeugung stärker gedrehter Garne noch übertreffen.

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