Auch in anderen Theilen der Umgebung Reichenbergs waren in derselben Zeit durch Reichenberger Tuchmacher grössere Fabriksbetriebe etablirt worden. Die Firma Siegmund Neuhäuser & Co., welche im Jahre 1821 eine Fabrik an der Stadtgrenze erbaut hatte, legte bereits im Jahre 1826 in Machendorf unterhalb der Burgruine Hammerstein den Grund zu dem grossartigen Fabrikscomplexe, der sich jetzt im Besitze der Baumwoll-Fabriksfirma Adolf Schwab befindet. Der Tucherzeuger Wilhelm Siegmund erbaute im Jahre 1825 in Rosenthal-Röchlitz eine Fabrik, welche er, nachdem er in den Jahren 1831 —1833 in Friedland eine weit grössere Fabrik eingerichtet hatte, an den Baumwollspinner Franz Herrmann verkaufte, von. dem selbe an die Wollwaaren-Fabriksfirma M. Zweig übergieng, während die Friedländer Fabrik sich bis heute im Besitze der landesbefugten Schafwollwaaren-Fabrik Wilh. Siegmuncl befindet. Im Jahre 1823 errichtete Gottfried Hartig in Proschwitz eine Tuchfabrik, im selben Jahre Ferdinand Elger in Reichenberg, Nr. 229/3, eine Streichgarnspinnerei. Beide Fabriksbetriebe giengen, der erstere 1834, der letztere 1846, an die Tuchfabriksfirma Franz Schmidt & Söhne in Reichenberg über, um bis heute in deren Besitze zu verbleiben. In den Jahren 1833—1848 erstand J. Philipp Schmidt die von Josef Trenkler in Proschwitz erbaute Schafwollspinnerei, welche nach vielen Zu- und Umbauten zu der heute noch im Besitze der Firma J. Phil. Schmidt & Söhne befindlichen Tuchfabrik heranwuchs. Im Jahre 1835 erkaufte Anton Deinuth die Mühle Nr. 60 in Röchlitz, 1855 die Fabrik Nr. 51 daselbst. Beide Fabriksrealitäten, welche ebenfalls seither vielfache Erweiterungen erfuhren, gehören noch derzeit der Reichenberger Tuchfabriksfirma Anton Demuth & Söhne. Im Jahre 1832 erbauten Josef Demuth & Sohn am Neisseflusse in Schwarau ein Wasserwerk, aus dem im Laufe der Zeit die derzeitige Tuchfabrik der Firma Ant. Jos. Demuth entstand. In den Jahren 1835—1844 entstanden hierorts die Krempelbelegfabriken von A. Herkner’s Söhne und Franz Blumenstock, welche noch heute im Besitze dieser Firmen sind. Maschinenfabriken zur Herstellung von Werkzeugen, Maschinen und Triebwerken für die Textil-Industrie hatten in Reichenberg und Harzdorf 1830 die Engländer Eduard Thomas und Bracegirdle errichtet.
Von noch grösserer Bedeutung als all die genannten Fabriksgründungen wurde für die Folge für die Reichenberger Industrie die Errichtung der Fabriken im Josephinenthale zu Reichenberg. Hierselbst hatte im Jahre 1806 der industriefreundliche Herrschaftsbesitzer Graf Christian Christoph Clam-Gallas am Harzdorfer Bache eine Rothgarnfärberei errichtet, welche 1808 an die Firma Ballabene & Co. in Prag, im Jahre 1828 aber an Johann Liebieg übergieng, welcher diese Anlage im Laufe weniger Jahrzehnte zu einer der grössten industriellen Unternehmungen der Monarchie ausgestaltete. Die Reichenberger Fabriken der Firma Johann Liebieg & Co. bilden derzeit eine förmliche Industriestadt, in welcher die Kammgarn- und Streichgarnspinnerei, die mechanische Schafwollwaaren-Weberei, Färberei, Druckerei und Appretur im grössten Maassstabe betrieben wird.
Nahezu zu ähnlichem Umfange und aus denselben kleinen Anfängen, wie die Johann Liebieg’sehe Fabrik, gediehen im Laufe der Jahrzehnte die Schafwollwaaren-Fabriken von Franz Liebieg in Dörfel, F. Schmitt in Böhmisch-Aicha (beide errichtet 1843), E. Heintschel & Co. in Heinersdorf (1852), lg. Ivlinger in Neu- stadtl, Fritsch & Co. in Haindorf und die Teppich- und Deckenfabrik J. Ginzkey in Maffersdorf (1853).
Während zahlreiche Tuchmacherstädte Böhmens ihren Charakter als solche allmählich einbüssten, war Reichenberg zu einem Industriecentrum ersten Ranges herangeblüht, das erfolgreich mit Brünn wetteiferte und dasselbe in manchen Beziehungen übertraf. Wollte die Tuchmacherzunft ihren führenden Rang behaupten, so musste sie ihre bisherigen zünftigen Einrichtungen bei Seite setzen und eine, den geänderten Zeit- und Industrieverhältnissen angemessene Neuorganisation durchführen. Dies geschah rechtzeitig und noch lange vor dem Erlass einer neuen Gewerbeordnung bereits im Jahre 1850 durch die Aufstellung neuer freisinniger Satzungen, sowie durch die theilweise Umwandlung der Walkmühlen in Appretur- und Spinnereifabriken, durch die Errichtung einer Webereischule (1852) und einer Tuchhalle zum Zwecke der Waarenbelehnung und des Verkaufes (1858), durch Errichtung einer Versorgungsanstalt für arme, alte Meister und deren Witwen, durch die Unterstützung bedürftiger Mitglieder, Witwen und Waisen, durch die Errichtung von Krankencassen für die Meister und Gehilfen.
Der grosse Ertrag des nahezu unbelasteten Realvermögens der seit ihren neuen Satzungen unter dem Titel »Reichenberger Tuchmachergenossenschaft« bestehenden Innung bot reichliche Mittel zur Gründung, Erhaltung und Förderung dieser segensreichen Einrichtungen.
Von weitgehendstem Einflüsse auf den Umfang der Erzeugung und den Absatz der Erzeugnisse waren in den Fünfzigerjahren die Maassnahmen der Regierung in Bezug auf die Zoll- und Handelspolitik.
Die Gross-Industrie. IV.
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